Prozesse gegen Neonazis und einen ukrainischen Regisseur in Russland

Mit zweierlei Maß

Zwei Prozesse verdeutlichen den unterschiedlichen Umgang der russischen Justiz mit tatsächlichen russischen und angeb­lichen ukrainischen Neonazis.

Zwei Gerichtsprozesse in Russland lenkten in der vergangenen Woche die Aufmerksamkeit auf sehr unterschiedliche Kapitel der jüngsten Vergangenheit. Der eine endete am Freitag wie erwartet mit einem harten Urteil. Im anderen wurde die Verhandlung gerade erst eröffnet, wenngleich schon jetzt von einer langjährigen Haftstrafe für die beiden Angeklagten auszugehen ist. Trotz ihrer sehr speziellen Tatbestände stehen beide Prozesse exemplarisch für die politischen Verhältnisse im heutigen Russland. Von Rechtsprechung kann indes nur im ersten Fall die Rede sein.
Ilja Gorjatschew, Gründer der legalen rechtsextremen Vereinigung Russkij Obras, verfolgte einstmals überaus ambitionierte Pläne. In der zweiten Hälfte der nuller Jahre, in der – analog zum russischen Herrschaftsmodell der »gelenkten Demokratie« – die Drahtzieher in der Präsidial­administration den »gelenkten Nationalismus« für sich entdeckten, erstellte der heute 33 Jahre alte Neonazi in staatlichem Auftrag Dossiers über Antifaschisten. Seine Recherchen bildeten die Grundlage für eine Todesliste, aus der später Namen von Opfern in insgesamt fünf Mordprozessen gegen Mitglieder der »Kampforganisation russischer Nationalisten« (BORN) auftauchten. Ein BORN-Mitglied hält sich unbehelligt in der Ukraine auf, alle anderen sitzen langjährige Haftstrafen ab. Mitte Juli sprach ein Geschworenengericht nun auch Gorjatschew in allen Anklagepunkten schuldig, darunter Mord in fünf Fällen, Waffenbesitz, Bandengründung und Bildung einer extremistischen Vereinigung. Das Urteil von voriger Woche lautete auf lebenslängliche Haft.

Enge Verbindungen zur Präsidialadministration hatten in Gorjatschew den Ehrgeiz geweckt, ra­dikalen russischen Nationalisten zu einer von der Regierung tolerierten legalen Partei zu verhelfen. Unter seiner Führung, versteht sich. »Im Kleinen den Weg von Ramsan wiederholen« – nicht mehr und nicht weniger hatte sich Gorjatschew den Prozessakten zufolge vorgenommen. Gemeint ist der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow, der als Moskaus Statthalter durch ein von Brutalität gekennzeichnetes Herrschaftssystem die einst abtrünnige Kaukasusrepublik ruhigstellte und sich deshalb so viele politische Freiheiten wie kein anderer Regionalfürst in Russland herausnehmen darf. Gorjatschew gründete BORN mit seinem Freund und Weggefährten ­Nikita Tichonow als militanten Ableger von Russkij Obras. BORN sollte das Gewaltpotential russischer Neonazis unter Beweis stellen. Gorjatschew beabsichtigte, illegal operierende Nazis zu decken, und bot sich gleichzeitig der Regierung als loyale Mittlerinstanz an, um die Neonaziszene halbwegs unter Kontrolle zu halten.
Letztlich ging das Kalkül nicht auf und aus Freundschaft wurde Verrat. Gorjatschew belastete seinen ehemaligen Freund Tichonow bereits beim ersten Verhör, dieser trat im jüngsten Prozess mit Aussagen gegen den gescheiterten Nazi-Politiker auf. Beweismittel fanden sich auch auf Gorjatschews Computer, darunter umfangreiche Kommunikation per Mail, Skype und ICQ. Letztlich war BORN eine unrühmliche Geschichte nicht nur für die Neonazigruppierung, sondern auch für die Regierung. Verbindungen Gorjatschews zum Machtapparat waren zwar Gegenstand der Verhandlungen, aber nur, um Hinweise auf eine etwaige Verwicklung der Verwaltung in die BORN zugeordneten Morde zu entkräften. Immerhin bot der Prozess einen Einblick in die Arbeitsweise der für den Bereich Jugend zuständigen Mitarbeiter der Präsidialadministration. Dort schien man kein Problem damit zu haben, Kader aus dem Neonazimilieu für leitende Posi­tionen in regierungsnahen Jugendorganisationenen zu rekrutieren, die zu Russkij Obras partnerschaftliche Beziehungen pflegten. Auch stellt sich die Frage, weshalb so mancher Helfershelfer aus dem BORN-Umfeld bislang nicht auf der Anklagebank saß, etwa der loyal aus dem Donbass berichtende Korrespondent der Komsomolskaja Prawda, Dmitrij Steschin, und der vormalige Pressesprecher von Russkij Obras, Jewgenij Waljajew.

Im zweiten Prozess geht es um eine demonstrative Abrechnung mit ukrainischen Gegnern der Krim-Annexion durch Russland. In Rostow am Don, also weit weg von der Öffentlichkeit der Hauptstadt, müssen sich der Regisseur Oleh Sentsow und der Linke Alexander Koltschenko – beide stammen von der Krim – seit dem 21. Juli wegen Terrorismus vor dem Militärgericht verantworten. Trotz ihrer ukrainischen Pässe gelten sie aus Sicht der Behörden wegen ihres letzten Wohnortes vor der Festnahme als russische Staatsbürger. Der Anklage zufolge soll Sentsow im März 2014 vom ukrainischen »Rechten Sektor« den Auftrag erhalten haben, auf der Krim dessen Filiale zu gründen und eine Destabilisierung der Lage herbeizuführen. Ziel der terroristischen Vereinigung sei es gewesen, die lokale politische Führung zum Austritt aus der Russischen Föderation zu bewegen.
Wie dies durch zwei den Angeklagten zur Last gelegte Brandanschläge auf eine Filiale der Partei »Einiges Russland« und die »Russische Gemeinschaft der Krim« in Simferopol mit Sachschäden unter 4 000 Euro hätte bewerkstelligt werden können, vermochten die an den ersten Verhandlungstagen befragten Zeugen, die zu den betrof­fenen Einrichtungen gehören, nicht zu beantworten. Sentsows Anwalt Dmitrij Dinse macht sich keine Illusionen über den Prozessverlauf. Sein Mandant sei in Untersuchungshaft gefoltert worden, die Peiniger hätten ihm 20 Jahre Haft in Aussicht gestellt. Dinse rechnet bestenfalls mit einer Strafmilderung und einem späteren Austausch gegen russische Gefangene in der Ukraine. Zwei reuige vermeintliche Mittäter haben ihre Verurteilung zu sieben Jahren Lagerhaft bereits hinter sich.