Die Balkanstaaten sind zu Transitländern für Flüchtlinge geworden

Über den Balkan in die EU

Jahrelang kamen die meisten Asylsuchenden in Deutschland aus den Staaten des westlichen Balkans. Nun entwickeln sich eben diese Staaten zur Transitroute für Geflüchtete aus Syrien, dem Irak und Afghanistan.

Während in Deutschland Bilder von Booten auf dem Mittelmeer den Streit über die europäische Abschottungspolitik illustrieren, wurde die Westbalkan-Route immer wichtiger für Geflüchtete. Nach dem dramatischen Anstieg der Zahl von Todesopfern im Mittelmeer durch die Abschaffung des Seerettungsprogramms Mare Nostrum versuchen immer mehr Menschen aus Afghanistan, Syrien, dem Irak, Eritrea und Somalia über Südosteuropa in die EU zu gelangen. Für viele ist das aus geographischen Gründen praktischer und zudem vermeintlich sicherer, als sich in einem Plastikboot in Richtung Lampedusa aufzumachen. Der Weg führt über die Türkei und Griechenland nach Mazedonien.
Doch die Regierung in Skopje hat Maßnahmen ergriffen, um die dort ankommenden Schutzsuchenden schnell wieder loszuwerden. Sie müssen innerhalb von 72 Stunden das Land verlassen und dürfen in dieser Zeit Busse und Züge umsonst nutzen. Zuvor starben mindestens 28 Menschen in Mazedonien, weil sie auf ihrer Weiterreise von Zügen erfasst wurden. Nun dürfen sie in den Zügen fahren, statt von ihnen überrollt zu werden. Allein seit Mitte Juni hat Mazedonien über 20 000 Grenzübertritte verzeichnet. In mazedonischen Aufnahmelagern wie Gazi Baba werden Menschen für unbestimmte Zeit unter grauenhaften Verhältnissen festgehalten, ohne Gerichtsverfahren und ohne jede Möglichkeit, einen Antrag auf Asyl zu stellen.
Von Mazedonien aus geht es dann in den Süden Serbiens rund um die Stadt Preševo, wo täglich mehrere Hundert Asylanträge gestellt werden. Dem Arbeitsminister Aleksandar Vulin zufolge ist der Staat derzeit mit über 60 000 Asylbewerbern beschäftigt. Allein im Mai wurden 8 000 Asylanträge gestellt. Zum Vergleich: Über das gesamte Jahr 2013 wurden in Serbien insgesamt 5 066 Asylanträge gestellt. Die Situation in Serbien ist ein wenig besser als in Mazedonien und Asylsuchende werden in der Regel nicht festgenommen. Doch gibt es immer wieder Berichte über Polizeibeamte, die ihre Zuständigkeiten falsch interpretieren und gegen die Flüchtlinge vorgehen.
»Serbien und Mazedonien sind zu einem Auffangbecken für die überzähligen Flüchtlinge ­geworden, die niemand in der EU haben will. Menschen, die vor Krieg und Verfolgung geflohen sind, sitzen in Mazedonien und Serbien in der Falle. Sie werden erpresst und misshandelt, haben keine Chance auf Asyl und werden daran gehindert, in die EU weiterzureisen«, sagt Heinz Patzelt, Generalsekretär von Amnesty International Österreich und fordert: »Die EU muss endlich sichere Wege für Flüchtlinge schaffen und ihnen einen Zugang zum EU-Asylsystem ermög­lichen.«

An Ort und Stelle ist man mit dieser Situation völlig überfordert. Selbst die Verpflegung und grundlegende medizinische Versorgung stellt die serbischen Behörden vor schier unlösbare Auf­gaben. Bei ihrem Serbien-Besuch vor drei Wochen betonte Angela Merkel noch: »Serbien ist mit 1 000 Flüchtlingen am Tag zum Transitland geworden. Wir werden diesen Ländern helfen müssen.«
Von Preševo aus versuchen viele in den Norden Serbiens nach Subotica an der serbisch-ungarischen Grenze zu kommen. Dort waren die Grenzen bis vor kurzem kaum gesichert und Schmugglerrouten aus der Zeit der internationalen Sanktionen gegen Serbien wurden reaktiviert, um Menschen nach Ungarn zu bringen. Erst als Anfang dieses Jahres Zehntausende Kosovaren innerhalb kürzester Zeit illegal über Ungarn in die EU einreisten, wurden vermehrt Polizeikräfte, auch aus Deutschland, an der Grenze eingesetzt. Die EU-Außengrenzen Ungarns und Kroatiens sind weiterhin relativ durchlässig. In Serbien ist Rassismus durchaus verbreitet, doch trotz der neuen Situation, mit der sich die Serben konfrontiert sehen, ist von Hetze gegen Flüchtlinge bislang wenig zu spüren.
In Ungarn kann davon nicht die Rede sein. ­János Lázár, Kanzleichef von Ministerpräsident Viktor Orbán, kündigte an, dass illegale Grenzübertritte in Zukunft als Straftat und nicht mehr als Ordnungswidrigkeit behandelt werde. Flüchtlinge sollen in Zukunft nur noch in Zelten untergebracht werden, die abseits von bewohnten Siedlungen aufgebaut werden. Die rechtspopulistische Fidesz ließ Plakate mit deutlichen Botschaften an Migranten aufhängen: »Wenn du nach Ungarn kommst, darfst du den Ungarn ihre Arbeit nicht nehmen« und »Wenn du nach Ungarn kommst, musst du unsere Kultur respektieren« steht auf ihnen geschrieben.
Die Regierung begann mit dem Bau eines 175 Kilometer langen und vier Meter hohen Grenzzauns zum Nachbarland Serbien. Mit dem Grenzzaun kann es der Regierung Orbán gar nicht schnell genug gehen. Statt im November, wie zunächst geplant, soll der Zaun bereits Ende August stehen. Die faschistische Partei Jobbik weiß die Stimmung für sich zu nutzen. Nach jüngsten Umfragen liegt sie bei 28 Prozent, was bedeutet, dass in Ungarn 1,2 Millionen Menschen die Rechtsextremen wählen würden.

Die neue Popularität der Westbalkan-Route lässt sich vor allem an den gestiegenen Zahlen von Grenzübertritten nach Ungarn ablesen. Nach Angaben von Frontex kamen in der ersten fünf Monaten über 50 000 Personen über diese Route in die EU. 2014 waren es im Vergleichszeitraum 5 143 Personen. Die meisten kamen über Serbien. Ähnlich hohe Zahlen wie im Westbalkan gab es zuletzt auf der östlich-mediterranen Route, die von der Türkei über Griechenland, Bulgarien oder Zypern in die EU führt. Hier wurden in den ersten fünf Monaten 48 015 Geflüchtete gezählt. Auf der zentral-mediterranen Route, die von Nordafrika nach Italien oder Malta führt, gab es einen Anstieg um 14 Prozent auf 47 008. Die Geflüchteten verteilen sich nunmehr gleichmäßig auf diese drei Routen.
Bislang waren Serbien, Mazedonien und der Kosovo im Fokus der europäischen und vor allem der deutschen Asylpolitik, weil die meisten Asylanträge aus den Westbalkan-Staaten kommen. Die Anerkennungsquote für Flüchtlinge aus diesen Ländern liegt bei unter einem Prozent. Serbien, Mazedonien sowie Bosnien und Herzego­wina wurden als sichere Drittstaaten eingestuft, um die Anträge schneller ablehnen zu können. 46 Prozent derjenigen, die in Deutschland Asylanträge stellen, kommen aus den Balkan-Staaten. Dagegen möchte Innenminister Thomas de Maizière vorgehen und diese Zahl »drastisch reduzieren«, weil sie »inakzeptabel« und eine »Schande für Europa« sei, wie er im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mitteilte.
De Maizière kündigte an, einen Gesetzentwurf einzubringen, nach dem weitere Balkan-Staaten in die Kategorie »sichere Herkunftsstaaten« fallen sollen. Gemeint sind Montenegro, Albanien und der Kosovo. Ob ein solcher Entwurf durch den Bundesrat käme, ist nicht sicher. Es ist aber denkbar, dass jemand wie Winfried Kretschmann von den Grünen im Bundesrat erneut ausschert und sich für die Etablierung neuer sogenannter sicherer Drittstaaten ausspricht. Bund und Länder sollen zudem prüfen, ob die 143 Euro Taschengeld im Monat ein Anreiz für Asylsuchende sind, nach Deutschland zu kommen. Oft wurde in Medienberichten der vergangenen Wochen behauptet, dies entspreche in Serbien immerhin einem Durchschnittsgehalt, was schlicht falsch ist. Das Durchschnittsgehalt in Serbien liegt bei knapp 400 Euro.