Das Scheitern der Koalition gegen den IS

Die inkohärente Allianz

Der sogenannte Islamische Staat kontrolliert ein größeres Territorium als vor einem Jahr. Der gegen ihn kämpfenden Koalition mangelt es an einer gemeinsamen Strategie, weil die Hälfte ihrer Mitglieder in Stellvertreterkriege untereinander verwickelt ist.

Vor einem Jahr überrannten Einheiten des sogenannten Islamischen Staats (IS) das Sinjar-Gebirge im Nordirak, töteten und verschleppten Zehntausende Yezidinnen und Yeziden und bedrohten außerdem die irakisch-kurdische Hauptstadt Arbil. Um das dort stationierte amerikanische diplomatische Personal zu schützen, so die offizielle Erklärung der US-Regierung, begannen die USA, Luftangriffe gegen Stellungen des IS zu fliegen. Außerdem rief der US-amerikanische Präsident Barack Obama eine internationale Koalition ins Leben. Seitdem wird, wer nur laut und oft genug verkündet, er bekriege den IS, irgendwie auch als Teil dieser Koalition betrachtet. Nur sind, zumindest ihren Verlautbarungen zufolge, eigentlich alle im Nahen Osten irgendwie gegen den IS, darunter auch der Iran, das syrische Regime von Bashar al-Assad, die libanesische Hizb­ollah und selbst al-Qaida.
Entsprechend tummeln sich in der Anti-IS-Allianz staatliche und nichtstaatliche Akteure, die noch bis vor kurzem von westlichen Geheimdiensten als maßgebliche Unterstützer terroristischer Organisationen geführt wurden und teils fast ebenso rabiat eine Sharia-Herrschaft in von ihnen kontrollierten Gebieten durchsetzen wie der IS.
Anfangs beteiligten sich an Luftschlägen gegen Stellungen des IS neben einigen europäischen Staaten auch sunnitisch-arabische Länder wie Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain, die ihre Unterstützung inzwischen allerdings de facto eingestellt haben, aus Protest gegen die enge Kooperation der USA mit dem Iran.
Strategisch wichtiger sind deshalb längst andere, eher inoffizielle Partner der USA geworden, allen voran der Iran und die von ihm kontrollierten schiitischen Milizen im Irak und in Syrien. Nur befinden sich die Golfstaaten, immerhin noch offizielle Mitglieder der Koalition, in einem blutigen Stellvertreterkrieg mit dem Iran, der mit verheerenden Konsequenzen im Irak, in Syrien und im Jemen ausgefochten wird. In Syrien beispielsweise kämpfen Rebellen mit Geldern aus Saudi-Arabien gegen vom Iran unterstützte Truppen der Hizbollah und des Assad-Regimes, während sie gleichzeitig alle beteuern, irgendwie als Teil der Anti-IS-Allianz aktiv am Kampf gegen den Islamischen Staat beteiligt zu sein.
Für Saudi-Arabien und die anderen Golfstaaten stellen die Regierungen im Irak, in Syrien und im Libanon, die alle für sich beanspruchen, an vorderster Front den IS zu bekämpfen, Vasallen des iranischen Erzfeindes dar. Wenn etwa im Nord­irak schiitische Milizionäre – was selten der Fall ist – vom Islamischen Staat kontrolliertes Gebiet erobern, feiern sie dies als Sieg über ihre sunnitischen Feinde, während sich Saudi-Arabien als Schutzmacht der arabischen Sunniten betrachtet. Längst erscheint in Riad vielen deshalb der Islamische Staat, dessen ideologische Wurzeln ohnehin im Wahhabismus, also der auch in Saudi-Arabien herrschenden Staatsdoktrin liegen, als das kleinere Übel.
Ähnlich geht es der türkische Regierung, dem jüngsten Mitglied in der Anti-IS-Koalition, die den Machtzuwachs der kurdischen PYD in Syrien weit mehr fürchtet als den IS an ihrer Südgrenze, wobei gerade die Effizienz der syrischen Schwesterpartei der PKK im Kampf gegen den IS außer Frage stand.

Nach den türkischen Luftangriffen im Nordirak war es denn auch ausgerechnet der Generalsekretär der Hizbollah, Hassan Nasrallah, der den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan so scharf für die Angriffe auf die PKK verurteilte, wie er sonst nur die türkische Unterstützung syrischer Oppositionsgruppen kritisiert.
Der Iran wiederum hat bislang aus der Existenz des Kalifats hauptsächlich Profit geschlagen, kann er sich doch seit vergangenem Jahr international als Vorkämpfer gegen den Terror des IS inszenieren und dabei sein Ziel weiter verfolgen, ein neues islamisch-persisches Imperium im Nahen Osten zu errichten.
Vollmundige Erklärungen, dass es sich beim Islamischen Staat um ein ganz schlimmes Übel handele, sind deshalb auch schon alles, was es an Gemeinsamkeiten unter den Anti-IS-Koalitionären gibt. Von einer Vision für die Region oder einer gemeinsamen Strategie kann nicht einmal ansatzweise die Rede sein, schließlich befinden sich zumindest die Hälfte von ihnen in mehr oder weniger offenem Krieg untereinander. Der Rest fürchtet den jeweils anderen mindestens ebenso sehr wie den IS und sucht mit allen Mitteln zu verhindern, dass der andere von Siegen über das Kalifat profitieren könnte.
Befindet sich etwa, wie in den vergangenen Monaten, die PYD in einer erfolgreichen Offensive, sorgt sich die türkische Regierung, dass die Kurden in Syrien zu sehr erstarken, zu große Gebiete und vor allem die ganze Grenze kontrollieren könnten. Unterstützung findet sie im benachbarten Nordirak, wo Regionalpräsident Massoud Barzani und die von ihm geführte Kurdische Demokratische Partei (KDP) versuchen, die konkurrierende PKK möglichst klein zu halten.
Der Iran wiederum unterstützt, wenn auch halbherzig, traditionell die PKK, vor allem um die türkische Regierung zu schwächen, mit der Teheran allerdings das gemeinsame Interesse teilt, einen kurdischen Staat mit allen Mitteln zu verhindern.
Im Irak ist die KDP eine der letzten verbleibenden Kräfte, die sich zumindest nominell mit der syrischen Opposition gegen das Assad-Regime solidarisiert und im Dauerkonflikt mit der schiitisch dominierten und de facto von Teheran kontrollierten Zentralregierung in Bagdad liegt. Aus diesem Grund fordern Saudi-Arabien und andere Golfstaaten inzwischen eine direkte Bewaffnung der irakischen Kurden, nicht nur um sie gegen den IS zu stärken, sondern auch um den wachsenden Einfluss des Iran im Irak auszubalancieren.

Doch die USA halten unbeirrt an ihrer Strategie fest, dass es sich um einen Krieg nur gegen den Islamischen Staat handele. Mit den entsprechenden Resultaten: In Syrien wollten sie, um militärische Konfrontationen mit Assad zu vermeiden, moderate Rebellen unterstützen, die gegen den IS kämpfen, das Regime aber in Ruhe lassen. Da es bislang solche Rebellen schlicht nicht gab, sollte eine entsprechende aus 5 000 Mann bestehende Truppe erst geschaffen werden. 60 Kämpfer hat man schließlich trainiert, mehr wollten sich an dem Projekt nicht beteiligen, acht wurden bei der Rückkehr nach Syrien von Jabhat al-Nusra, dem lokalen al-Qaida-Ableger in Syrien, als Geiseln genommen. Wie gerade bekannt wurde, hat die Türkei durchgesetzt, dass US-Flugzeuge, die künftig von türkischem Boden starten, keine Erlaubnis erhalten werden, Missionen zur Unterstützung von PYD-Milizen gegen den IS zu fliegen. Die US-Regierung dagegen dekretiert, sehr zum Missfallen der Türkei, dass keinen Rebellen aus der Luft geholfen werden dürfe, die zugleich gegen Assads Truppen kämpfen.
Und der Islamische Staat? Der hat diese disparaten Gegner bislang wenig zu fürchten. Derzeit kontrolliert er sogar ein größeres Territorium als im August 2014, während er zusehends seinem Namen Ehre macht und sich in ein de facto staatsähnliches Gebilde verwandelt. Geschwächt hätten ihn die Luftangriffe bislang kaum, hieß es kürzlich aus amerikanischen Sicherheitskreisen, während US-Generäle inzwischen davon sprechen, dass der Krieg gegen das Kalifat sogar eine Generation dauern könnte. Eine Prognose, so erschreckend sie heute auch klingen mag, die sich, geht der »War on Terror« gegen den IS so weiter wie bisher, sogar noch als zu optimistisch erweisen könnte.