Das Atommülldesaster in der Asse

Atomunfall auf Raten

Das Bundesumweltministerium gibt in­direkt zu, dass im Schacht Asse viermal so viel Atommüll liegt wie bisher bekannt. Zudem steht zu vermuten, dass sich darunter auch hochradioaktiver Abfall befindet.

Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) hat der EU-Kommission vergangene Woche die deutsche Planung für den Umgang mit dem Atommüll vorgelegt. Die Bundesregierung nutzte den Anlass, um ein »Nationales Entsorgungsprogramm« zu beschließen. Das besteht nach wie vor darin, das Problem immer weiter in die Zukunft zu verschieben. Eine Neuigkeit gibt es allerdings: Die maroden Fässer aus dem Bergwerk Asse II in Niedersachsen sollen möglichst nicht in den Schacht Konrad in Salzgitter überführt werden, sondern in das noch zu findende Endlager für hochradioaktive Abfälle. Es handelt sich dem Bundesumweltministerium (BMU) zufolge um rund 200 000 Kubikmeter.

Wie das? Bisher war stets die Rede von 126 000 Fässern mit einem Gesamtvolumen von 47 000 Kubikmetern schwach- bis mittelradioaktiver ­Abfälle. Eine Aufrundung dieser Menge um 300 Prozent übertrifft sogar den in der Atomwirtschaft üblichen großzügigen Umgang mit Zahlen. Eine Erklärung liefert das BMU im Verzeichnis radioaktiver Abfälle: »Als Planungsgrundlage für eine Rückholung wird davon ausgegangen, dass sämtliche Abfälle sowie eine ­zusätzliche Menge an kontaminiertem Salzgrus behandelt und gelagert werden müssen.« Der­zeitige Schätzungen gehen dem Ministerium zufolge von mindestens 90 000 Tonnen an unbehandelten Abfällen beziehungsweise von insgesamt 175 000 bis 220 000 Kubikmetern nach einer Konditionierung aus. Das bedeutet: Zu den schon bekannten 47 000 Kubikmetern kommen 90 000 Tonnen kontaminiertes Salz hinzu. Sie müssen ebenfalls wie Strahlenmüll behandelt, konditioniert und verpackt werden, was ihr ­Volumen auf 150 000 Kubikmeter erhöht, so dass man am Ende ungefähr auf 200 000 Kubikmeter kommt.
Im Schacht Asse sind demnach beachtliche Mengen an Salzgrus (feinkörniges Salzgesteinsmaterial) kontaminiert. Der Schacht ist nicht nur durch eindringendes Wasser und nachlassende Stabilität des Grubengebäudes mehr und mehr einsturzgefährdet, er wird auch mehr und mehr verstrahlt. Die dort herrschenden katas­trophalen Zustände haben im Laufe von vier Jahrzehnten zu einer Vervierfachung der Gesamtmenge des radioaktiven Mülls geführt. Entsprechend steigen die Entsorgungskosten. Weit schwieriger ist es, einzuschätzen, wie sehr sich Komplexität und Risiken der Rückholung erhöht haben.
Ein einzelnes Objekt soll nach Darstellung der früheren Bergwerksbetreiber die Ursache für die Strahlenverseuchung gewesen sein. 1973 sei ein Fass mit flüssigem Inhalt bei der Einlagerung leck geschlagen. Schwach radioaktiv war dieses Fass dann aber garantiert nicht. Inzwischen geht man davon aus, dass eine unbekannte Zahl von Fässern aufgrund der Feuchtigkeit beschädigt ist. Sie waren sowieso nicht auf eine längere Einlagerung von Atommüll ausgelegt.
Wir haben es also mit einem schweren Atom­unfall zu tun, der zunächst verschwiegen, dann vertuscht und anschließend heruntergespielt wurde, bis sich erst allmählich das Ausmaß herausstellte: Die Asse ist das größte radioaktive Problem in Deutschland – falls nicht andere Atom­unfälle erfolgreicher vertuscht wurden.
Bei einem Schadensfall in Milliardenhöhe erscheint es einigermaßen dringlich, nach den Verursachern und ihrer Versicherung zu fragen. Die Zahl der beteiligten Firmen und Einrichtungen ist überschaubar, der Tathergang im Prinzip bekannt. Nach einigen Betriebsjahren gingen die Betreiber und Genehmigungsbehörden dazu über, das »Versuchsendlager«, das ursprünglich Forschungszwecken dienen sollte, als billige Entsorgungsstätte für die Atomindustrie zu nutzen. Der Asse-Untersuchungsausschuss des niedersächsischen Landtags stellte in seinem Abschlussbericht vom 18. Oktober 2012 fest: »Unter dem Deckmantel der Forschung erfolgte jedoch die Entsorgung von schwach- und mittelradioaktiven Abfällen in großer Menge.« Das Bundesamt für Strahlenschutz, dem die Verantwortung für die Anlage seit dem 1. Januar 2009 obliegt, erklärt: »Der weitaus größte Teil der rund 47 000 Kubikmeter radioaktiver Abfälle stammt aus den Anlagen der heutigen Kernkraftwerksbetreiber Eon, Vattenfall Europe, RWE und EnBW.« Sie gelangten über die ehemalige Wiederaufarbeitungsanlage des Nuklearforschungszentrums Karlsruhe in das Bergwerk. Nachdem die damalige Bundesforschungsministerin Annette Schavan (CDU) ihre Zuständigkeit für die Asse ans Umweltministerium abgegeben hatte, räumte auch sie Anfang 2010 Fehler ein: So viele Fässer hätte man für die Forschung niemals benötigt.
Konsequenzen bleiben aus. Die Kosten für die Sanierung trägt der Bund. Das Verursacherprinzip findet keine Anwendung. In einem Land, das auf die Einhaltung von Regeln sonst allergrößten Wert legt, gilt leider die spezielle Regel, dass die Haftung umso geringer ausfällt, je größer der angerichtete Schaden ist.

Ziemlich folgenschwer ist die im Nationalen Entsorgungsprogramm formulierte Absicht, den rückgeholten Strahlenmüll ins zukünftige Endlager für hochradioaktive Abfälle zu überführen: »Die radioaktiven Abfälle aus der Schachtanlage Asse II sollen zurückgeholt und bei der Standortsuche für das Endlager nach dem Standortauswahlgesetz berücksichtigt werden.« Die vorsich­tige Formulierung deutet an, dass die Entscheidung noch nicht endgültig ist.
Das bedeutet zunächst, die Sanierung der Schachtanlage so lange aufzuschieben, bis es zu spät ist. Nach Angaben von Umweltministerin Hendricks kann mit einer Rückholung »nicht vor dem Jahr 2033 begonnen werden«. Spezialisten für Bergbau sehen die Stabilität des Schachts jedoch nur noch für dieses Jahr, allenfalls bis 2017 gewährleistet. So vernünftig es also ist, dem ebenfalls als problematisch eingestuften Schacht Konrad in Salzgitter nicht auch noch die Verwaltung des Asse-Erbes zu übertragen, so leichtsinnig ist der zeitliche Aufschub, den die neue Option enthält.
Zweitens ist nicht nachvollziehbar, warum schwach- bis mittelradioaktiver Abfall im Endlager für hochradioaktiven Atommüll teuren Platz erhalten soll. Einen Standort für ein Endlager zu finden, ist schier unmöglich. Und jetzt soll es noch viel größer werden als ursprünglich geplant, möglicherweise zehnmal so groß. Das ergibt ökonomisch und ökologisch, technisch und administrativ keinen Sinn. Es sei denn, das, was im Schacht Asse liegt, ist nicht das, als was es offiziell gilt.
»Hochradioaktive Abfälle wurden nach derzeitigem Kenntnisstand in die Schachtanlage Asse II nicht eingelagert«, behauptet das BMU. Ein dem Entsorgungsprogramm anhängendes Verzeichnis radioaktiver Abfälle klassifiziert die Asse-Fässer auf die gleiche Art, wie es die früheren Betreiber taten: 124 494 Gebinde als schwachradioaktive Abfälle und 1 293 Fässer mit mittelradioaktiven Abfällen. Unter den erstgenannten Gebinden befinden sich aber »nach bisherigen Erkenntnissen 14 779 sogenannte Verlorene Betonabschirmungen (VBA) mit Abfällen höherer Aktivität«.
Mehr als jedes zehnte der schwachradioaktiven Fässer ist also gar nicht schwachradioaktiv, sondern besitzt eine »höhere Aktivität«. Das BMU will sich aber nicht darauf festlegen, dass diese gut zehn Prozent mittelradioaktiv seien. Es befürchtet wohl, dass jene knapp 15 000 Behälter, die mit einem Betonmantel versehen sind, um die nach außen dringende Strahlung zu reduzieren, in Wahrheit hochradioaktive Inhalte bergen. Diese Befürchtung ist in der Tat ein triftiger Grund, das Asse-Inventar nicht in den Schacht Konrad zu überführen und es auch nicht wie schwach- bis mittelradioaktiven Abfall zu behandeln.
Das möchte das BMU nicht zugeben. Lieber verschanzt es sich hinter gestelzten Formulierungen, die sachlich nicht direkt falsch, aber ein wenig irreführend sind. Letztlich ist der Sachverhalt einfach zusammenzufassen: Schacht Asse ist weder ein Endlager noch eine Versuchseinrichtung und die Bezeichnung seines Inventars als ausschließlich schwach- bis mittelradioaktiv trifft auch nicht zu.