Autonomie mit Panzerfaust
Zu Beginn des wieder entflammten bewaffneten Konflikts zwischen der Türkei und der PKK konnten die verschiedenen Konfliktzonen noch deutlich unterschieden werden: Während die türkische Armee sich in den Bergen Gefechte mit PKK-Kämpfern lieferte, ging die türkische Polizei gewaltsam gegen vermeintliche und tatsächliche PKK-Mitglieder in den Städten vor. Diese Unterscheidung zwischen Militäroffensiven auf dem Lande und Polizeirazzien in den Städten verschwimmt immer mehr. Der Krieg findet inzwischen auch in kurdischen Städten statt.
Aus einer Reihe von kurdischen Kleinstädten waren vorige Woche Autonomieerklärungen zu vernehmen. Man erkenne den türkischen Staat und seine Organe nicht mehr an und werde sich ab jetzt selbst verwalten, hieß es. Als Gründe für diesen Schritt wurden der Neuausbruch des Kriegs und die Polizeirazzien genannt, bei denen in den kurdischen Gebieten auch Zivilisten getötet wurden. Bei den »autonomen« Städten handelt es sich durchweg um Kommunen mit Bürgermeistern der prokurdisch-linken Demokratiepartei der Völker (HDP), eine »Selbstverwaltung« soll auch über die HDP-Kommunalverwaltung organisiert werden. Parallel zu den Autonomieerklärungen traten Bewaffnete der PKK-nahen Jugendorganisation YDG-H auf, sperrten die Zugangsstraßen und stellten Verteidigungsposten gegen die zu erwartende Reaktion des türkischen Staats auf.
Die genaue Strategie und die Interessen der einzelnen Gruppen bleiben jedoch unklar. Was die kurdische Bevölkerung in der Türkei, die HDP, die YDG-H und die PKK jeweils möchten und anstreben, ist keineswegs identisch. Die Wut über die brutalen Polizeirazzien und die alltägliche staatliche Gewalt gegen die Kurden eint all diese Akteure. Aber während die kurdische Bevölkerung und die HDP ein Interesse daran haben, dass der Krieg möglichst rasch endet, geht es für die PKK und ihre Organisationen um politische Fragen. Die PKK will ihre Macht demonstrieren und zeigen, dass die Eskalation des Konflikts durch die AKP-Regierung für die Türkei schmerzhafte Folgen haben wird und nicht ungestraft bleibt – nicht ganz überraschend in einem Konflikt, in dem beide Seiten versuchen, mit Drohungen und Erpressungen ihre Interessen durchzusetzen. Die YDG-H wiederum ist kein bloßes Werkzeug der im Nordirak sitzenden PKK-Führung, sondern verfolgt einen eigenständigen Kurs. Auch als die PKK-Führung bereit war, mit der AKP-Regierung zu verhandeln, gab es seitens der YDG-H immer wieder militante Aktionen gegen den türkischen Staat, woraus deutlich wurde, dass die YDG-H dem Friedensprozess skeptisch gegenüberstand. So bleibt unklar, ob die Machtdemonstration der YDG-H in den »selbstverwalteten« Städten, etwa durch die öffentlichen Auftritte mit Sturmgewehren und Panzerfäusten, mit der PKK abgesprochen war oder nicht.
Die Antwort des türkischen Staats auf die Autonomieerklärungen und das Auftreten der YDG-H-Milizen ließ nicht lange auf sich warten. Zuerst traf es Varto, eine Kleinstadt mit 10 000 Einwohnern im Südosten der Türkei. Am 16. August griff die türkische Armee die YDG-H-Milizen an und marschierte in Varto ein. Mindestens zwei Zivilisten wurden von den türkischen Sicherheitskräften getötet, möglicherweise hingerichtet. Ein Untersuchungsbericht der Menschenrechtsorganisation IHD legt nahe, dass die türkische Armee in Varto zahlreiche Menschenrechtsverletzungen begangen hat. Kurz danach, am 18. August, wurde Silvan, eine Kleinstadt mit etwa 60 000 Einwohnern, von der Armee belagert. Die Straßen waren ebenso blockiert wie die Telekommunikationswege. So war es nicht mehr möglich, die Einwohner von Silvan von außen zu erreichen. Während ein Angriff auf die Stadt und damit viele Todesopfer drohten, gelang kurdischen Zivilisten in Silvan in der Nacht zum 19. August eine Übereinkunft: Die PKK-nahen Bewaffneten konnten abziehen, die türkische Armee verzichtete im Gegenzug auf die Erstürmung von Silvan. Die türkischen Truppen, die am Tag darauf in Silvan einmarschierten, beschossen und zerstörten dennoch willkürlich Wohngebäude und zivile Einrichtungen.
In den Tagen danach wurden auch an anderen Orten YDG-H-Milizen von der türkischen Armee angegriffen, auch mit Luftangriffen auf die »selbstverwalteten« Städte. HDP-Politikerinnen und -Politiker, die an den Autonomieerklärungen mitgewirkt hatten, wurden festgenommen und wegen Separatismus angeklagt – nach den türkischen Gesetzen drohen dafür lebenslange Haftstrafen. Am Sonntag lief die Frist zur Regierungsbildung ab, die AKP hatte an einer Koalition mit der sozialdemokratischen CHP oder der ultranationalistischen MHP kein Interesse gezeigt. Am 1. November sollen Neuwahlen stattfinden. Die AKP-Regierung ist nicht an einer Deeskalation der Lage interessiert. Es ist jedoch offen, ob ihr recht durchschaubares Kalkül aufgeht, bis zu den Neuwahlen die türkischen Wählerinnen und Wähler in Angst und Schrecken zu versetzen, so dass viele die AKP wählen, nur damit der Krieg aufhört. Wahlprognosen deuten darauf hin, dass die AKP mit ihrem Kriegskurs eher Stimmen verlieren dürfte. Dazu tragen auch wütende Proteste von Angehörigen getöteter türkischer Soldaten bei. Sie machen die AKP-Regierung für die Toten verantwortlich und wehren sich dagegen, dass die AKP die Beerdigungen zu Wahlkampfveranstaltungen umfunktioniert. Derzeit ist es nicht absehbar, wie sich die AKP verhalten wird, sollte sie bei den Neuwahlen nicht eine eigene Mehrheit erringen. Es ist aber recht sicher, dass die Regierungspartei alle Mittel einsetzen wird, um sich an der Macht zu halten.