In der Ukraine gehen die Kämpfe weiter, Russland hält an der harten Linie fest

Der »vaterländische« Fraß

In der Ukraine verstoßen ukrainische wie separatistische Truppen gegen das Minsker Abkommen. Während die USA weitere Sanktionen gegen russische Unternehmen und Einzelpersonen erlassen, verhängt Russland Importverbote für Lebensmittel.

Der bewaffnete Konflikt im Osten der Ukraine droht erneut zu eskalieren. Seit der zweiten Augustwoche vermeldete die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) eine Zunahme von Kampfhandlungen unter Einsatz von schwerer Artillerie. Tote gab es auch unter der Zivilbevölkerung. Beide Seiten – sowohl die ukrainischen Streitkräfte als auch die Kämpfer der abtrünnigen »Volksrepubliken« – gaben zu, geschossen zu haben, jeweils als Reaktion auf Provokationen der Gegenseite. Verstöße gegen das Minsker Abkommen, das die Grundlage für eine Beilegung der Kämpfe und eine nachfolgende politische Lösung bildet, sind unleugbar.
Im Süden, nahe der Hafenstadt Mariupol, konnte die ukrainische Armee bei den jüngsten Kämpfen ihre Position auf einer Anhöhe deutlich verbessern, um damit einer möglichen Einnahme der Stadt vorzubeugen. Ob jedoch überhaupt ernsthaft ein Sturmversuch in Planung ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Manche Beobachter an Ort und Stelle gehen davon aus, dass keine der Konfliktparteien derzeit willens und in der Lage zu aufwendigen Manövern ist. Die ukrainischen Streitkräfte stoßen bei der Rekrutierung von Soldaten auf Probleme. Bei der vorigen Einberufungswelle glänzte über die Hälfte der angeschriebenen Wehrpflichtigen mit Nichterscheinen und die Reputation der Freiwilligenverbände hat inzwischen arg gelitten. Aber auch in den Volksrepubliken lässt die Kampfmoral nach. Freiwillige Kader aus Russland, darunter beurlaubte Angehörige der Streitkräfte, sollen sich nach Angaben der Nowaya Gazeta größtenteils zurückgezogen haben. Waffen seien allerdings im Überfluss vorhanden.
Die Militärführung der Donezker Volksrepublik gab ihrerseits bekannt, dass die ukrainischen Streitkräfte im Donbass vier Einheiten mit jeweils bis zu 90 000 Soldaten stationiert hätten, die von allen Richtungen aus angriffen. Ziel sei es, die Lage zu destabilisieren und die geplanten Kommunalwahlen in den Volksrepubliken zu behindern. Anfang Juli gab der ukrainische Präsident Petro Poroschenko zu verstehen, dass er die für den 18. Oktober in der Donezker Volksrepublik – in benachbarten Lugansk liegt der Termin zwei Wochen später – angekündigten Wahlen als Verstoß gegen das Minsker Abkommen wertet. Mittlerweile beschloss die Rada, das ukrainische Parlament, ein Gesetz, welches das Prozedere für Kommunalwahlen regelt, die nun ebenfalls für Oktober angesetzt sind, aber nur in den Regionen stattfinden sollen, die von der ukrainischen Regierung kontrolliert werden.

Bis Oktober könnte jedoch noch einiges passieren. Der russische Militärexperte Pawel Felgenhauer geht davon aus, dass sich die russischen Streitkräfte bestens auf eine großangelegte Militäroperation vorbereitet haben. Die Sommermonate eignen sich dafür besser als das Frühjahr oder der Herbst, wenn ganze Landstriche in für Panzer und schwere Artillerie kaum zu überwindende Matschlandschaften verwandelt sind. Abgesehen von einer allgemeinen Destabilisierung der Ukraine blieb die Realisierung strategischer Zielsetzungen bislang weit hinter den Erwartungen Russlands zurück. Ungebrochen bleibt die Ukraine westlich orientiert und trotz offensichtlicher politischer und ökonomischer Turbulenzen gelingt es der Regierung, sich immer noch zu behaupten, ohne Signale auszusenden, die von Russland als Kompromissbereitschaft gedeutet werden könnten.
Jedoch führt Felgenhauer eine Reihe von Gründen an, welche die russische Regierung zur Mäßigung zwingen, darunter die Gewissheit, dass der Westen bei einem Vorstoß Russlands und offensichtlichen Verstößen gegen das Minsker Abkommen mit schärferen Sanktionen aufwarten wird. Bei der derzeitigen Konjunktur und schwindenden Einnahmen aus dem Ölexport fehlen Russland die nötigen Reserven, um weitere ökonomische Verluste ausgleichen zu können. Allerdings trägt dieser Umstand auch zu einer zunehmenden Aggressionstendenz bei.
Innenpolitisch machen sich Schwächen bemerkbar. Die Popularität der russischen Führung fußt schließlich nicht allein auf einer geschickten, an Russlands Stärke appellierenden Politik, sondern auch auf einer wohlkalkulierten Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, der nicht von der Oligarchie beansprucht wird. Der Krim-Effekt hat längst nachgelassen. Es fehlen die Mittel für einen Inflationsausgleich aus der Staatskasse für Rentner und Militärangehörige, Staatsdiener müssen auf Zusatzleistungen verzichten. Darunter leidet die Loyalität, worauf man im Kreml reagieren wird. Die demonstrative Vernichtung von Lebensmitteln aus Ländern, gegen die im vergangenen Jahr ein Importverbot verhängt worden war, ruft in der russischen Bevölkerung eher Irritation als Begeisterung hervor.

Seit dem 14. August unterliegen in Russland Lebensmittelimporte aus Albanien, Montenegro, Island und Liechtenstein einem Verbot. Darunter fallen Fleisch-, Fisch- und Milchprodukte, außerdem Obst und Gemüse. Für die Ukraine gelten gesonderte Bedingungen, das Importverbot soll erst in Kraft treten, wenn die ukrainische Regierung den wirtschaftlichen Teil des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union unterzeichnet. Beide Seiten hätten dem russischen Ministerpräsidenten Dmitrij Medwedjew zufolge jedoch vereinbart, alle strittigen Fragen bis zum 1. Januar 2016 zu klären. Er nannte diesen Schritt »eine bewusste Entscheidung, die die Bereitschaft zu Gegenmaßnahmen bedeutet«. Nur wenige Tage zuvor hatten die USA Sanktionen gegen weitere Unternehmen und Einzelpersonen aus Russland verhängt. Gleichzeitig plant die ukrainische Führung Sanktionen gegen Russland bei einem ohnehin stark rückläufigen Handelsaufkommen.
Verkäufer auf russischen Märkten antworten seit geraumer Zeit nur noch ungern auf die Frage nach der Herkunft ihrer Waren. Oder aber sie machen maßlos von den aktuellen politischen Tendenzen Gebrauch. Da die Nachfrage nach »vaterländischen« Produkten enorm angestiegen ist, stammen Pfirsiche oder Tomaten inzwischen angeblich von der Krim oder aus dem Krasnodarer Gebiet. Griechische Importe werden mit logistischem Aufwand und zusätzlichen Schmiergeldern zu türkischen umdeklariert. Nachprüfbar ist die Herkunft für den Normalverbraucher ohnehin nicht. Eher schon lässt sich die Qualität messen, wenn man auf seinen Gaumen vertraut. So ist der Käseverzehr seit den Lebensmittelimportverboten nichts mehr für eingefleischte Gourmets, denn statt Milch wird in der Produktion nun gerne billiges Palmöl verwendet, das nicht aus der EU importiert werden muss. Die russische Milchwirtschaft ist dem gestiegenen Verbrauch ohnehin nicht gewachsen. Laxe Vorgaben und Kontrollen in der Lebensmittelindustrie machen es möglich, Zutaten flexibel den neuen Verhältnissen anzupassen.
Auf das Preisniveau wirken sich nicht nur all diese Maßnahmen aus, sondern auch der sinkende Ölpreis und der weiter fallende Rubel. Denn Produktionsmittel, ein Teil der Rohstoffe und Verpackungen müssen weiterhin importiert werden. Innerhalb eines Jahres sind die Preise für Lebensmittel bis zu 50 Prozent gestiegen, in Russland hergestellte Produkte nicht ausgenommen. Der Internationale Währungsfonds beziffert die Verluste des russischen Bruttoinlandsprodukts infolge der westlichen Sanktionen mittlerweile auf neun Prozent. Russland sieht sich mit extrem negativen Prognosen konfrontiert, der Ukraine geht es nicht anders. Nach Angaben der Agentur Bloomberg weist die Ukraine derzeit das weltweit schwächste Wirtschaftswachstum auf, den zweituntersten Rang nimmt Russland ein.