Älter und ärmer – die Altersarmut nimmt zu

Die Trittin-Rente

Die einst von Rot-Grün erlassenen Rentenkürzungen führten zu immer größerer Altersarmut. Unter der Großen Koalition hat sich das Problem weiter verschärft.

Zwei Projekte der rot-grünen Bundesregierung von 1998 bis 2005 haben die Zeit überdauert: das Pfand für Einwegflaschen und die Kürzung der gesetzlichen Altersbezüge. Der Begriff »Trittin-Rente« ist die traurige Synthese aus beidem. Der grüne Umweltminister Jürgen Trittin hatte 2003, ein Jahr nach Inkrafttreten der Rentenreform, das Einwegpfand eingeführt. Mittlerweile ist es für viele Menschen fester Bestandteil ihres Auskommens. »Regierung plant Erhöhung von Ein- und Mehrwegpfand zur Bekämpfung von Altersarmut«, brachte der Online-Satiredienst Der Postillon das Phänomen prägnant auf den Punkt. Flaschensammeln ist für viele Arme zu einer nicht unerheblichen Einnahmequelle geworden, etliche Senioren sind unter den Leergutsuchern. In zahlreichen Kommunen gibt es sogenannte Flaschenringe an Mülleimern, mit denen die Suche nach Pfand menschenwürdiger gemacht werden soll. Wenn es bei dieser Art sozialpolitischer Maßnahmen gegen Armut bleibt, wird die Konkurrenz vor allem unter den betagten Sammlern drastisch wachsen. Denn die Altersarmut nimmt stark zu.
Wer im Alter seinen Lebensunterhalt nicht mit eigenem Einkommen bestreiten kann, bekommt lediglich Grundsicherung. Nach den neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes bezogen in diesem Frühjahr rund 512 000 Personen Grundsicherung. Das ist die Sozialhilfe für Senioren, deren Einkünfte unter etwa 770 Euro im Monat liegen. Derzeit beziehen im Vergleich zur Einführung dieser Fürsorgeleistung im Jahr 2003 mehr als doppelt so viele Ältere Grundsicherung. Weil Frauen weniger verdienen und häufiger unterbrochene Erwerbsbiographien haben, erhalten sie auch im Ruhestand weniger Geld. 61 Prozent der Bezieher von Grundsicherung im Frühjahr 2015 waren Frauen. Im Osten ist die Zahl der Grundsicherungsempfänger deutlich niedriger als im Westen. Die heutigen Rentner können noch auf Ansprüche zurückgreifen, die sie zu DDR-Zeiten erworben haben. Bei den künftigen Ruheständlern sieht das anders aus. In den kommenden zehn Jahren wird sich die Zahl der Grundsicherungsempfänger auf 1,5 Millionen Menschen verdreifachen, warnt der Wohlfahrtsverband »Der Paritätische«. Denn dann gehen die Jahrgänge in Rente, die von den rot-grünen Rentenkürzungen am härtesten betroffen sind.

Schon heute ist die Altersarmut höher, als die Zahl der Grundsicherungsempfänger vermuten lässt, denn es gibt eine hohe Dunkelziffer. »Die Zahlen der Grundsicherung verdecken ein bisschen die tatsächliche Situation«, sagt Ulrike Mascher, Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland. Etliche Senioren finanzieren sich mit Minijobs oder informeller Arbeit – sie tragen Zeitungen aus, putzen Klos, räumen Supermarktregale ein oder sie sammeln Flaschen. »Viele alte Frauen scheuen sich auch, Grundsicherung zu beantragen, oder haben Sorge, dass ihre Kinder herangezogen werden«, sagt Mascher. Die Ämter greifen bei der Grundsicherung nur auf Angehörige zurück, wenn die mehr als 100 000 Euro im Jahr verdienen. Die meisten Kinder werden für ihre Eltern nicht aufkommen müssen. Aber Eltern können nicht an Töchtern und Söhnen vorbei die Grundsicherung beantragen und müssen ihnen die Vermögensprüfung zumuten. Schon das wird etliche abhalten, einen Antrag zu stellen. Nach Schätzungen des rentenpolitischen Sprechers der Linksfraktion im Bundestag, Matthias Birkwald, hätten weitere 1,4 Millionen Senioren Anspruch auf Grundsicherung, beantragen aber keine. Hunderttausende haben keinen Anspruch, gelten aber trotzdem als arm. »Im Jahr 2013 mussten 2,6 Millionen Menschen im Renten­alter von weniger als 979 Euro netto im Monat leben, in der Mehrzahl Frauen«, so Birkwald. »Ein solches Alterseinkommen reicht vielleicht noch zum Überleben, aber für den Theaterbesuch oder die Wochenendreise mit den ehemaligen Kollegen und Kolleginnen reicht es nicht.«
Auf Grundsicherung Anspruch haben Senioren und Menschen, die dauerhaft erwerbsunfähig sind, wenn sie ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten können. Der Regelsatz liegt bei knapp 400 Euro, hinzu kommt Geld für die Miete. Um das Geld beziehen zu können, dürfen die Empfänger so gut wie nichts mehr besitzen. Bis zu einem Freibetrag von 2 600 Euro muss sämtliches Geld aufgezehrt, Wertgegenstände oder ein eventuell vorhandenes Auto müssen verkauft worden sein. Das sind striktere Regeln als bei Bezug von Hartz IV. Die Sozialverbände fordern eine Erhöhung der Freibeträge und eine Anpassung der Grundsicherung an die Inflation. »Ältere Menschen sind von den Preissteigerungen etwa für Mobilität oder für Medikamente und Hilfsmittel, die aus eigener Tasche bezahlt werden müssen, besonders betroffen«, sagt Mascher.
Senioren, die theoretisch Anspruch auf Wohngeld haben, müssen es beantragen, um Grundsicherung zu bekommen. Das Problem: Wer in einer Wohnung lebt, die das Amt für zu groß oder zu teuer hält, bekommt kein Geld. Angesichts der extrem gestiegenen Mieten in den Großstädten hat das mitunter dramatische Folgen. Dass etwa türkischstämmige Senioren Angst haben, aus einem In-Viertel wie Berlin-Kreuzberg ins billige, aber von Rassisten durchsetzte Berlin-Lichtenberg zu ziehen, dürfte einleuchtend sein – allerdings nicht den zuständigen Ämtern. In solchen Fällen werden Berechtigte alles tun, um ohne die Fürsorge auszukommen. Denn ansonsten müssen sie faktisch ihr Leben aufgeben.
»Immer mehr alte Menschen stürzen mit Renteneintritt in die Armut«, sagt Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Wohlfahrtsverbands »Der Paritätische«. Denn die Höhe der Renten der jetzt in den Ruhestand Gehenden liegt immer häufiger unter der Grundsicherung. »Das Gefährliche an der Entwicklung ist, dass nicht nur die absolute Zahl der Betroffenen, sondern auch die Quote, also der Anteil der Grundsicherungsbezieher an allen Menschen im Rentenalter, einen neuen traurigen Spitzenwert erreicht hat«, sagt Schneider.

Noch ist der Anteil der offiziell Armen unter den Senioren geringer als in der Gesamtbevölkerung. Aber: »Bei keiner anderen Bevölkerungsgruppe steigt die Armut gegenwärtig stärker als bei den Rentnerinnen und Rentnern«, sagt Schneider.
Die Rentenbezüge spiegeln das Erwerbsleben. Wer lange arbeitslos ist, wird auch im Alter arm sein. Das gilt auch für Beschäftigte, die wenig verdienen. Der zu Jahresbeginn eingeführte Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde schützt nicht vor Altersarmut. Das wäre erst der Fall, wenn der Mindestlohn bei 13 Euro liegen würde, hat der Paritätische Wohlfahrtsverband errechnet. Aber nicht nur Niedriglohnabhängige und Menschen, die lange nicht erwerbstätig waren, werden niedrige Renten beziehen. Auch Durchschnittsverdiener erreichen kaum eine Rente über der Grundsicherung. Das ist eine Folge der rot-grünen Rentenreform, die sich erst mit großer Zeitverzögerung bemerkbar macht. Wie hoch die Rente ausfällt, hängt davon ab, wie viele »Rentenpunkte« Beschäftigte gesammelt haben. Der Wert eines Rentenpunktes wird politisch entschieden: Der Bundestag legt es fest. Zurzeit ist ein Rentenpunkt im Westen 29,21 Euro und im Osten 27,05 Euro wert. Rentenpolitisch ist die Bundesrepublik nach wie vor gespalten.
Wer mit seinem Verdienst genau das Durchschnittseinkommen trifft, bekommt im Jahr einen Rentenpunkt gutgeschrieben. Bei geringerem Verdienst ist es weniger, bei höherem mehr, allerdings nur bis zu einer Grenze von etwa 6 000 Euro im Westen und 5 200 Euro im Osten. Einkommen darüber wird nicht für die Rente wirksam, dafür sind auch keine Beiträge an die gesetzliche Rentenversicherung zu zahlen. Das heißt aber auch: Verlorene Rentenjahre können nicht aufgeholt werden. Schon aus diesem Grund ist es fatal, dass die Arbeitsagentur für Hartz-IV-Beziehende keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung abführt. Ebenso fatal ist, dass die Sachbearbeiter ältere langjährige »Kunden«, wie Erwerbslose verhöhnend im Arbeitsamtsjargon genannt werden, zwingen können, vor Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze in Rente zu gehen. Mitte August hat das Bundessozialgericht geurteilt, dass die Arbeitsagenturen Langzeiterwerbslose trotz Abschlägen bei den Ruhestandsbezügen in Zwangsrente schicken dürfen. Dabei geht es keineswegs um Einzelschicksale. Rund 140 000 Erwerbslose sind betroffen. Pro Monat, den Beschäftigte oder Arbeitslose vorzeitig in Rente gehen, verlieren sie 0,3 Prozent ihrer eigentlichen Ansprüche. Wer bei einem Renteneintritt mit 65 Jahren Bezüge von 924 Euro bekommen würde, erhält 77 Euro weniger, wenn er oder sie mit 63 in den Ruhestand geht. Abschlagsfrei ist eine Rente nur, wenn der Bezieher 45 Jahre Beiträge gezahlt hat – was selten der Fall ist. Gerade vor dem Hintergrund der Rente mit 67 ist das Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts katastrophal.
Die Rente mit 67 ist ohnehin nichts anderes als ein Rentenkürzungsprogramm. Denn 65jährige haben kaum die Chance, einen Job zu finden. In etlichen Berufen sind die Beschäftigten in diesem Alter schlicht gesundheitlich ruiniert und können in ihren Branchen, etwa auf dem Bau oder in der Gießerei, nicht mehr arbeiten.

Sozialverbände plädieren für eine Umkehr in der Rentenpolitik. Sie fordern, dass Rentner mindestens 50 Prozent des durchschnittlichen Nettolohns bekommen. Private Altersvorsorge wie die Riester-Rente, mit vielen Milliarden staatlich gefördert, ist aus Sicht der Verbände keine Lösung – obwohl Rot-Grün sie zum Ausgleich der Kürzungen eingeführt hat. Die Riester-Rente kann die entstandenen Lücken nicht ausfüllen, weil Niedrigverdiener sich die Beiträge nicht leisten können. Die Einführung der staatlich geförderten Altersvorsorge war nichts anderes als ein Subventionsprogramm für die Versicherungswirtschaft. Immer wieder fordern Wohlfahrtsverbände und die Linkspartei, dass die Bundesregierung die milliardenschwere Förderung der Riester-Rente einstellt und das Geld in die gesetzliche Rentenversicherung steckt. Das aber hat die Große Koalition nicht vor.
Auch Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) ist nicht entgangen, dass Altersarmut für einen zunehmenden Teil der Senioren eine reale Bedrohung ist. Sie will eine Mindestrente einführen. Ihr Modell ist eng an das bisherige System angelehnt und würde Millionen Menschen ausschließen, denn diese Bezüge würde es nur für Menschen geben, die Jahrzehnte in die Rentenkassen eingezahlt haben. Und dann würden sie nur eine Monatszahlung bekommen, die minimal über der Grundsicherung liegt.