Die Situation von Geflüchteten im Transit auf dem Balkan

Zum Heulen

Mazedonien schloss vergangene Woche ­vorübergehend seine Grenzen und beschoss auf den Grenzübertritt wartende syrische Flüchtlinge mit Tränengas. Auch Serbien ist mit Flüchtlingen im Transit überfordert.

Der kleine Ort Gevgelija an der mazedonisch-griechischen Grenze muss dieser Tage in einem Atemzug mit Calais, Lampedusa und Kos genannt werden. Tausende Flüchtlinge warten hier darauf, das kleine Balkanland zu verlassen und den Weg nach Westeuropa aufzunehmen. Auf Druck von Hilfsorganisationen gewährte Mazedonien Flüchtlingen die Nutzung von Bussen und Zügen, nachdem sie sich registriert haben. Dann bleiben ihnen 72 Stunden, um Asyl zu beantragen oder das Land zu verlassen.
Doch am Donnerstag voriger Woche rief Mazedonien aufgrund der großen Zahl an Geflüchteten, die die Grenze zur Weiterreise passieren wollten, den Ausnahmezustand aus. Das Militär rückte aus, um die Grenze zu Griechenland abzuschotten. Blendgranaten, Schlagstöcke und Tränengas wurden eingesetzt, um die Menschen daran zu hindern, die mazedonische Grenze zu überqueren. Es kam zu dramatischen Szenen. Familien wurden auseinandergerissen, weil es einige Eltern an den Sicherheitskräften vorbei über die Grenze schafften, während die Kinder festgehalten wurden.
Die militärische Abschottung des Landes währte allerdings nur kurz. Bereits am Samstag wurden wieder schwangere Frauen und Familien mit Kindern über die Grenze gelassen. Hunderte, die nicht durchgelassen wurden, durchbrachen einfach die Absperrungen. Inzwischen hat Mazedonien zugesichert, die Grenzen nicht wieder zu schließen. Die Situation hat sich seither etwas entspannt, weil Busse zur Verfügung gestellt wurden, um die Menschen an die serbische Grenze zu bringen.

Die meisten Menschen am Bahnhof von Gevgelija kommen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan. Ihre Reise führt durch die Türkei, in der Gegend um İzmir machen sie sich per Boot auf den Weg nach Griechenland. Anschließend geht es zu Fuß an die griechisch-mazedonische Grenze. Eigentlich müssten sie laut dem Dublin-III-Abkommen in Griechenland bleiben, weil dies das erste EU-Land ist, das sie betreten haben. Doch weil die Zustände in dem Krisenland unzumutbar sind, darf kein Staat der EU sie dorthin zurückschicken. Bevor der Weg sie weiter an die serbisch-ungarische Grenze führt, müssen sie sich in der serbischen Grenzstadt Preševo eine Aufenthaltsgenehmigung holen.
In Serbien haben sich bislang 90 000 Geflüchtete registrieren lassen. Die Zahl jener, die über Serbien versuchen, in die EU einzureisen, dürfte noch ein bisschen höher liegen, da sich nicht alle registrieren lassen. Das Land ist nicht auf die Menschen vorbereitet. Die serbische Regierung betrachtet dies als humanitäre Herausforderung, der sie schlicht nicht gewachsen ist. Ministerpräsident Aleksandar Vučić besuchte vergangene Woche die Geflüchteten in Belgrad, die rund um den Bahnhof und eine Bushaltestelle zu Hunderten ausharren. Er versprach, in der Nähe solle ein Winterquartier gebaut werden, und redete mit Geflüchteten, die in Belgrad in Schlafsäcken unter freiem Himmel schlafen. »Serbien wird ein guter Gastgeber für syrische Flüchtlinge sein und seine Pflichten wahrnehmen«, betonte er.
Am Montag wurde der Ministerpräsident vom Handelsblatt interviewt. Vučić forderte Deutschland auf, die finanziellen Hilfe für Asylsuchende aus dem Westbalkan zu reduzieren, da es ihnen nur um das Geld gehe. Er lobte aber auch die Bundesregierung und warf Griechenland vor, seine Grenzen nicht genug zu kontrollieren.

Serbien nimmt fast keine Geflüchteten auf. Von 2008 bis zum Mai dieses Jahres wurden 50 477 Asylanträge in Serbien gestellt, davon ­bekamen zwölf Personen einen Flüchtlingsstatus und zehn subsidiären Schutz. Die meisten Serbinnen und Serben nehmen die Situation als temporäre Herausforderung wahr, von Hetze ­gegen die Geflüchteten ist bislang wenig zu spüren. Selbst die serbischen Boulevardmedien skandalisieren die Situation nicht, sondern kritisieren die Flüchtlingsgegner. Das kann man an der Reaktion auf die rassistischen Aussagen von Mihalj Bimbo ablesen, dem Bürgermeister der serbischen Stadt Kanjiža nahe der ungarischen Grenze. »Diese Ausländer bringen nicht einmal die Grundlagen allgemeiner Intelligenz und Kultur mit«, sagte Bimbo. Weiter heißt es in einer Erklärung: »Sie entweihen unsere Friedhöfe und Gräber und vernichten unsere Parks, Äcker und Obstgärten.« Er forderte, dass die Serben die Lösung des Problems »in ihre eigenen Hände« nehmen müssen.
Die serbische Tageszeitung Kurir, die eher für Sensationalismus als für Empathie mit Flüchtlingen bekannt ist, gab ihm daraufhin den Titel »Dummkopf des Jahres«, mit der Begründung, dass Bimbo selbst mit seiner Familie 1956 aus Ungarn geflüchtet war. »Er hasst die Flüchtlinge, obwohl er einst auch Asyl in Serbien erhalten hat«, heißt es im Artikel. Auch die von der Regierung beeinflusste Zeitung Politika verurteilte die rassistischen Eskapaden des Bürgermeisters.

Die meisten Serbinnen und Serben sehen die Situation wohl auch deshalb so locker, weil sie wissen, dass die Flüchtlinge ihre Zukunft nicht in Serbien sehen. Fast alle versuchen, über Ungarn weiter nach Westeuropa zu gelangen. Die EU will deswegen die sogenannte Schlepperkriminalität bekämpfen und zeigt damit eine gewisse Weltfremdheit. Die »Schlepper« in Mazedonien und Serbien sind keine organisierte Mafia, sondern Anwohner, die die Möglichkeit nutzen, sich ein paar hundert Euro dazu zu verdienen. In Gevgelija kostet es zum Beispiel zwei Euro, ein Smartphone aufladen zu lassen. Im Grenzgebiet von Serbien und Ungarn machen Taxifahrer ein kleines Geschäft damit, dass sie Geflüchtete zu überteuerten Preisen über die Grenze fahren. In Serbien schlafen Tausende Menschen unter freiem Himmel, während Schmuggler und Ladeninhaber an der serbisch-ungarischen Grenze ein gutes Geschäft machen.
Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet jetzt so viele Menschen versuchen, über die Westbalkan-Route in die EU zu gelangen. Die ungarische Regierung baut einen 175 Kilometer langen Zaun an der Grenze zu Serbien und sie hat die Arbeiten beschleunigt. Die Pläne der ungarischen Regierung haben sich herumgesprochen: Die Chancen sinken, der Andrang wächst. Den Behörden zufolge ist am Bahnhof im mazedonischen Gev­gelija die Zahl der Flüchtlinge innerhalb kürzester Zeit von 400 auf 2 000 pro Tag gestiegen.
Befürchtet wird, dass Zehntausende Menschen in den völlig überforderten Staaten Serbien und Mazedonien stranden könnten, wenn Ungarn seine Grenzen schließt. Dabei würde auch ein Zaun zwischen Ungarn und Serbien die Fluchtroute wohl nur verschieben. Schon wird in Sarajevo und Zagreb diskutiert, ob auch dort bald Zeltlager in der Innenstadt entstehen. Die türkische Nachrichtenagentur Anadolu berichtet, dass Bosnien und Herzegowina aufgrund der geographischen Lage, die eine völlige Sicherung der EU-Außengrenze von Kroatien sehr schwierig macht, bald zum nächsten wichtigen Punkt auf der Westbalkan-Route werden könnte. In Bosnien und Herzegowina gibt es ein Asylheim mit Kapazitäten für 300 Menschen und ein Immigrationszentrum, in dem 120 Personen untergebracht werden können. Sollte sich die Route in das Land verschieben, wäre es also ebenso überfordert mit der Situation und es gäbe ähnliche Bilder wie in Belgrad und Gevgelija.