Die Biennale in Istanbul

Bridge over Troubled Water

Nicht nur das dezentrale Konzept der Biennale kommt im hitzegeplagten Istanbul an seine Grenzen. Auch die Kuratorin wirkt überfordert. Dennoch lohnt es, sich die Ausstellung anzusehen.

In den finsteren Zeiten. Wird da auch gesungen werden? Da wird auch gesungen werden.Von den finsteren Zeiten«, schreibt Bertolt Brecht 1939 im dänischen Exil. Es sind gerade schlechte Zeiten für die Türkei, aber trotz Zensur und Druck boomt die kreative Szene. Die Stiftung für Kunst und Kultur, die seit fast drei Jahrzehnten die Istanbuler Kunstbiennale ausrichtet, muss gerade eine Steuerprüfung über sich ergehen lassen. Auch der Verein Anadolu Kültür hat die Steuerprüfer im Haus. Er organisiert im Auftrag des Unternehmers Osman Kavala eine Ausstellung, die in der Türkei nicht allen gefällt. Schon gar nicht der islamisch-konservativen Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die das durch kleine Schikanen zum Ausdruck bringt.
Das Depo ist eine ehemalige Tabakfabrik, die Osman Kavala zu einem Kunstraum umbauen ließ. Die Fabrik beherbergt gleich zwei Ausstellungen, die sich einfühlsam und kritisch mit der Leugnung des Genozids an den Armeniern auseinandersetzen. »Die Stille von Ani« heißt eine Videoinstallation des belgischen Künstlers Francis Alÿs. Die Stadt Ani wurde im fünften Jahrhundert als armenische Festung gegründet. Ihre Ruinen liegen heute im Grenzgebiet zwischen Armenien und der Türkei. Der armenische König Aschot III. Bagratuni (951–977) machte Ani im Jahre 961 zu seiner Hauptstadt. Als sie 1045 an das Byzantinische Reich fiel, war die an der nördlichen Seidenstraße gelegene Stadt weithin als »Stadt der 1001 Kirchen« bekannt und zählte mehr als 100 000 Einwohner. 1064 eroberten die türkischen Seldschuken die reiche Metropole. In den folgenden Jahrhunderten wurde die Stadt immer wieder zum Ziel von Feldzügen. Kurdische Fürsten, Georgier, das russische und das Osmanische Reich beanspruchten die für ihre armenische sakrale Architektur berühmte Stadt, von der heute nur noch Relikte existieren. Das Video vermittelt diese komplexe Stadtgeschichte zunächst anschaulich, um dann in eine eindrucksvolle Klang-Bild-Installation zu münden. Der Künstler ließ eine Gruppe lokaler Kunststudenten in den Ruinen Vogelstimmen nachahmen. Die jungen Leute benutzten dazu verschiedene Pfeifen, die im Ausstellungsraum in einer Vitrine zu sehen sind. Die Stille von Ani wird plötzlich von 30 verschiedenen Vogelstimmen belebt. Eine schöne poetische Verarbeitung vergessener Geschichte.
Istanbul stöhnt derzeit unter der Hitze des Spätsommers. Schweißtriefend schleppen sich die Biennale-Besucher durch die Stadt. Werke von über 80 Teilnehmern aus Afrika, Australien, Europa, dem Nahen und Mittleren Osten, Lateinamerika und Nordamerika werden an mehr als 30 Orten auf der europäischen und der asiatischen Seite des Bosporus gezeigt. Die Ausstellung »Saltwater« (Salzwasser) findet sowohl in Museen als auch an verschiedenen Plätzen auf dem Land und auf dem Wasser statt, auf Booten, in Hotels, alten Bankgebäuden, Garagen, Gärten, Schulen, Geschäften und privaten Wohnungen. Die Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev, eine US-amerikanisch-italienische Kunsthistorikerin, war bereits künstlerische Leiterin der Documta 2012 in Kassel. Der Auftakt der Ausstellung in Istanbul ging schief. Auf die Frage eines Medienvertreters während der Pressekonferenz, ob denn die Eskalation im Kurdenkonflikt auf der Biennale reflektiert würde, antwortete die Kuratorin, es sei nicht Aufgabe von Ausstellungen, politische Positionen zu vertreten. Ihre darauf folgende Bemerkung »Wir haben aber zwei australische Künstler, die aus der Volksgruppe der Aborigines stammen« löste befremdetes Lachen aus. Dumpfer kann wohl niemand Minderheiten stigmatisieren und politische Konflikte ignorieren. Die beteiligten Künstler und Künstlerinnen haben zum Glück eine andere Sicht auf Politik und Gesellschaft.
Der Ausstellungstitel »Salzwasser« spielt darauf an, dass die Metropole Istanbul von Salzwasser umgeben und durchzogen ist. Der Bosporus teilt die Stadt als Meerenge zwischen dem Schwarzen Meer und dem Marmara-Meer. Warum aber der Umstand, dass der Besucher der Biennale salzige Gewässer überqueren muss, um zu den verschiedenen Ausstellungsorten zu gelangen, zum künstlerischen Konzept erhoben wird, ist nicht ersichtlich, es wirkt wenig geistreich. Warum der Besucher der Ausstellung eine Stunde lang Schiff fahren muss, um im Hotel Splendid Palas auf der Insel Büyükada eine Soundinstallation des britischen Künstlers Ed Atkins zu hören, ist auch nicht nachvollziehbar. Die Installation hätte ebenso im Ardahan Hotel, auch Ausstellungsort der Biennale, aber sehr viel zentraler in Beyoğlu gelegen, einen würdigen Platz finden können. Man braucht mindestens drei Tage, um sich die Ausstellung anzusehen, verkündete die Kuratorin stolz auf der Pressekonferenz. Dass ein breites Angebot noch kein schlüssiges Konzept ist, wird leider nur zu deutlich. Es ist schon ärgerlich, bei dieser Biennale durch die ganze Stadt rasen zu müssen, um sich einen Überblick über die Exponate verschaffen zu können. Zumal die einzelnen peripheren Venues genauso durch zentraler gelegene hätten ersetzt werden können. In Kassel konnten die Besucher der Documenta mit dem Fahrrad die weitläufige Ausstellung bei mitteleuropäischen Temperaturen erkunden. In Istanbul schwitzt der umweltbewusste Besucher der Biennale in Bussen bei 30 Grad Hitze, um von einem Ende der Stadt zum anderen zu gelangen. Niemand hält das aus oder sieht ein, warum er das tun soll. Der Biennale-Katalog enthält nicht mal einen Index. Angesichts eines satten, von der türkischen Wirtschaft finanzierten Millionenbudgets eine echte Zumutung.
Schafft man es dennoch, die einzelnen Venues zu erreichen, wird man oft von beeindruckenden künstlerischen Arbeiten belohnt. Im Keller des House Hotel im Hafenviertel Karaköy finden sich ein Klavierspieler, der einen traurigen Walzer spielt, und eine Tänzerin, die nicht tanzen kann. Über eine Computerinstallation werden zwei Figuren wie Marionetten bewegt. Die Tänzerin wird dabei an ihren Haaren hochgezogen und verrenkt sich die Glieder. Die Installation stammt von Janet Cardiff und Georges Bures Miller und ist eine Anspielung auf die Degradierung von Frauen zum Objekt männlicher Wünsche.
Im Parallelprogramm der Biennale beweist sich Istanbul als kreative Metropole der internationalen Kunstszene. Im Museum Salt stellt die türkische Künstlerin Hale Tenger eine Wohnung der achtziger Jahre nach, als die Türkei noch unter der Macht der Generäle stand. Die düstere Rauminstallation lässt erahnen, warum das Land bis heute unter den Folgen des Militärputsches von 1980 leidet. Der Machtzuwachs der Islamisten hängt unmittelbar mit der Repression durch die ehemals modernistische kemalistische Elite zusammen. In der Bauart-Galerie der Bahçeşehir-Universität in Karaköy beeindruckt die Ausstellung »Imagination und Inszenierung«, die die Arbeiten von deutschen, österreichischen und Schweizer Künstlern zeigt. Das Schweizer Kollektiv Gram rekonstruiert eine Prügelei zwischen Kurden und islamisch-konservativen Parlamentariern in der türkischen Nationalversammlung in Ankara. Ein raumhohes Foto zeigt das Stadtparlament von Graz. Sehr genau ahmen die Darsteller die Posen der Politiker in Ankara nach. Die Biennale Istanbul ist anstrengend, aber einen Besuch wert.

Die 14. Istanbul-Biennale läuft noch bis zum 1. November. http://14b.iksv.org