Ein strammer Antiimperialist wird Vorsitzender der britischen Labour-Partei

Das Gespenst des Corbynismus

Die britische Labour-Partei hat mit Jeremy Corbyn überraschend einen streng antiimperialistischen Vorsitzenden gewählt.

Noch vor wenigen Monaten schien die britische Labour-Partei am Ende. Nach der Niederlage bei den Parlamentswahlen und dem darauffolgenden Rücktritt des Vorsitzenden Ed Miliband geriet die Partei in eine Krise. Für viele Mitglieder stand sie nicht mehr für eine wirkliche Opposition zu den konservativen Tories und bot keine Alternative zu den derzeitigen Verhältnissen. Damals war nicht abzusehen, dass mit der Wahl des neuen Vorsitzenden der Labour-Partei eine politische Bewegung entstehen würde: der Corbynismus. Benannt nach Jeremy Corbyn, einem Hinterbänkler des äußersten linken Flügels, der nicht nur unerwartet die Parteimitglieder von seinem Führungspotential überzeugen konnte, sondern auch eine Eintrittswelle in die Partei auslöste – und so die Wahl gewann.
Dies ist umso erstaunlicher, da Corbyn zunächst als der aussichtsloseste Kandidat erschien und sich weitab vom Mainstream der Partei befindet. Der Abgeordnete für Nord-Islington in London kandidierte erst in letzter Minute, mit der Intention, eine Debatte in der Partei zu ermöglichen. Niemand, am wenigsten Corbyn selbst, hätte damit gerechnet, dass er am 12. September die Wahl zum Parteivorsitzenden mit fast 60 Prozent der Stimmen gewinnen würde. Die Parteimitglieder hatten die Wahl zwischen vier Kandidatinnen und Kandidaten aus verschiedenen Strömungen der Partei. Alle bezogen zu den wichtigen Themen Haushaltskürzungen, Einwanderung, Wohnungsknappheit und Militär Stellung.

Zwei der vier Kandidaten hatten Regierungserfahrung. Andrew Burnham ist seit 2001 Parlamentsabgeordneter. In Gordon Browns Regierung (2007–2010) war er unter anderem Gesundheitsminister. Bereits 2010 stand er für den Parteivorsitz zur Wahl, verlor allerdings gegen Miliband. Burnhams Programm repräsentiert die Mitte der Partei. Er sah seine Mission darin, den Staatshaushalt auszugleichen und so ein Wirtschaftswachstum wie in Vorkrisenzeiten zu erreichen. Yvette Cooper war Ministerin für Arbeit und Renten unter Brown und besetzte im Schattenkabinett Milibands den Platz der Innenministerin. In dieser Funktion bot sie der amtierenden Innenministerin Theresa May im Parlament in wichtigen Fragen Contra. Liz Kendall, Parlamentsmitglied seit 2010, repräsentiert den rechten Flügel der Partei. Sie vertritt eine Reduktion der Staatsschulden und strenge Haushaltsdisziplin und würde, um die Wohnungskrise zu lösen, lieber neue Wohnungen bauen, statt Wohngeld auszuzahlen. Alle drei fordern, dass EU-Migranten nur eingeschränkt Sozialleistungen empfangen und dass Einwanderung im Allgemeinen kontrolliert wird. Einig sind sie sich auch darin, den »Islamischen Staat« im Irak und in Syrien mit Luftangriffen zu bekämpfen.
Früh war klar, dass Kendall trotz der Unterstützung durch Tony Blair das Rennen verlieren würde. Die Parteimitglieder trauten ihr nicht zu, die notwendigen Änderungen in der Partei herbeizuführen. Dass Corbyn allerdings mit einem für die Labour-Partei ungewöhnlich linken Programm gewinnen konnte, war nicht erwartbar. Der Kern davon und das, was ihn für die Linke attraktiv macht, sind seine ökonomischen Reformpläne. Dies brachte ihm auch die Unterstützung der zwei großen Gewerkschaften, Unite und Unison, ein.

Um die Wirtschaft wieder wachsen zu lassen, will Corbyn ausstehende Steuern eintreiben – vor allem von Unternehmen –, die Steuervermeidung erschweren, Banken regulieren und der Nationalbank das Mandat geben, für bestimmte Großprojekte wie Wohnungsbau mehr Geld zur Verfügung zu stellen. Er will Studiengebühren abschaffen. Er ist der einzige Kandidat, der sich nicht klar zum Thema Einwanderung geäußert hat. Mehrfach hat er jedoch betont, dass er sie nicht für ein Problem halte. Deutlich war auch sein Verhalten nach dem Wahlgewinn, als er in London an einer Demonstration für die Aufnahme von Flüchtlingen teilnahm. Corbyn, führendes Mitglied der Stop the War Coalition, ist für die Abschaffung nuklearer Waffen und den Austritt aus der Nato. Dies hält er für notwendig, da die Nato eine militärische Einrichtung des Westens und damit »imperialistisch« sei. Nach seiner Ansicht sollte Tony Blair für seine Unterstützung des Irak-Kriegs vor Gericht gestellt werden. Folglich ist Corbyn gegen jede militärische Intervention in Krisengebieten, etwa in Syrien oder der Ukraine.
Innerhalb und außerhalb der Partei wird Corbyn als Apologet von Diktaturen zu fungieren kritisiert. Er mochte Hugo Chávez, bezeichnet sich als Freund von Wladimir Putin, Hizbollah und Hamas und sieht die USA als Ursache aller Probleme in der Welt. Dies reflektiert die Einstellungen seiner Wählerinnen und Wähler. Einer Studie von Yougov zufolge empfinden 51 Prozent der Unterstützer Corbyns die USA als größte Gefahr für den Weltfrieden. 25 Prozent glauben, dass eine geheime Elite die Welt kontrolliert.

Dass bestimmte Teile der Linken Corbyn unterstützen, ist nicht überraschend; allerdings, doch selbst Linke, die linke Apologeten sonst kritisieren, geraten bei Corbyn ins Schwärmen. Seine freundliche Einstellung gegenüber Antisemiten wird von ihnen als Naivität abgetan, dafür seine »Authentizität« und »Frische« gelobt.
Einige politische Kommentatoren sehen in Corbyns rasantem Aufstieg Parallelen zum derzeitigen Erfolg Bernie Sanders’, des größten Konkurrenten von Hilary Clinton im Rennen um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten in den USA. Während Sanders ähnliche Vorstellungen beim Thema Wirtschaft hat, ist er allerdings kein Freund von Holocaust-Leugnern und Islamisten.