Sozialisten und Eiscreme in Vermont

Rote Hoffnung aus dem Grünen Staat

Die Kampagne des parteilosen Senators Bernie Sanders zur Nominierung als demokratischer Präsidentschaftskandidat bringt Hillary Clinton in Bedrängnis. Ein Besuch im US-Bundesstaat Vermont zeigt, wo Sanders’ ungewöhnliche Karriere begann.

»Dieses Land gehört uns allen und nicht nur einer Handvoll Milliardäre!« Die Stimme des 74jährigen mit dem zerwühlten weißen Haarschopf und den aufgekrempelten Ärmeln ist heiser von den vielen Kampagnenreden der letzten Tage, Wochen und Monate. Vor knapp 28 000 Menschen in einem Stadion in Los Angeles, Kalifornien, beschwört Bernie Sanders, Senator des Bundesstaates Vermont, die Notwendigkeit einer »politischen Revolution« von unten. Auf jeden Satz folgt tosender Applaus. Das war im August auf dem Höhepunkt des vom Fernsehsender CNN schon Anfang Juli ausgerufenen »Summer of Sanders«. Die soziale Frage ist das Dauerthema seiner Kampagne, er setzt sich für Arbeit, Bildung und Gesundheitsfürsorge für alle ein. Seit seine Kampagne für die demokratische Präsidentschaftskandidatur im Sommer erst Hunderte, dann Tausende, dann Zehntausende Zuschauer und Zuschauerinnen anlockte, mehren sich auch in deutschen Zeitungen Meldungen über Senator Bernie Sanders aus dem Bundesstaat Vermont im Nordosten der Vereinigten Staaten. Wiesen, Kühe, große Bauernhöfe aus rotem Holz und eine Unzahl bewaldeter grüner Hügel – wenn man die Fähre über den Lake Champlain verlässt, der Vermont vom Bundesstaat New York auf der Westseite trennt und sich bis zur kanadischen Grenze im Norden zieht, sieht Vermont tatsächlich aus wie der Aufdruck einer »Ben & Jerry’s«-Eiscremepackung. Das Champlain Valley bildet das fruchtbare Herzstück des Landes, dort konzentrieren sich um das College-Städtchen Burlington ein Großteil der Bevölkerung, der Landwirtschaft und etwas Industrie. In Deutschland dürfte Vermonts berühmtestes Exportprodukt, »Ben & Jerrys’s«-Eiscreme, bekannter sein als der Bundesstaat selbst. In der berühmten Geschmacksrichtung »Cookie Dough« gibt es das Eis in jeder gutsortierten Tankstelle in Deutschland zu kaufen. Aber auch Sorten mit lustigen Namen wie »Ketchup in the Rye« oder »Troll Hair« sind schon in der Stammfabrik in Waterbury, das ungefähr eine halbstündige Autofahrt westlich von Burlington liegt, produziert worden. Ben & Jerry’s verwendet nur Milch von regionalen Biobauern, verteilte kostenlos Eis bei »Occupy Wall Street« und machen Millionenumsätze. In Waterbury werden täglich 300 000 Pints (ein Pint entspricht etwa 500 Millilitern) Eiscreme produziert. Die Geschichte des Aufstiegs eines von zwei Hippies betriebenen Eisladen in einer ehemaligen Tankstelle zu einem millionenschweren Unternehmen ist legendär. Ben Cohen und Jerry Greenfiel, die Gründer von Ben & Jerry’s, verbindet einiges mit Bernie Sanders, zu dessen glühenden Unterstützern sie zählen. Wie Sanders stammen Cohen und Greenfield aus jüdischen Familien in Brooklyn, New York. Auch wenn der Konzern inzwischen vom britisch-niederländischen Unilever-Konglomerat aufgekauft wurde, produziert Ben & Jerry’s angeblich nach wie vor gemäß unverändert hoher sozialer und ökologischer Standards. In Burlington begann parallel zum Aufstieg des Speiseeisimperiums von Cohen und Greenfield auch der Aufstieg von Bernie Sanders. Im Protestjahr 1968 zog er nach Vermont. In den siebziger Jahren kandidierte Sanders erfolglos für politische Ämter. Erst 1981, drei Jahre nach der Gründung von Ben & Jerry’s, wurde er erstmals zum Bürgermeister von Burlington gewählt. 1990 gelang ihm erstmals die Wahl ins Repräsentantenhaus. Seit 2006 ist vertritt er den Bundesstaat Vermont im Senat. Als Bürgermeister von Burlington lieferte sich Sanders einen erbitterten Schlagabtausch mit dem Klinikum von Burlingtons angesehener und wohlhabender Universität. Als gemeinnützige Einrichtung muss das Klinikum keine Steuern bezahlen, obwohl es de facto ein großes Unternehmen mit immensen Einnahmen aus Gesundheitsdienstleistungen ist. Sanders argumentierte, die Universität profitiere von städtischen Dienstleisutungen und der Steuerbefreiung, ohne kostenlose oder kostengünstige Gesundheitsdienste für die Gemeinde anzubieten, und schickte ihr einen Steuerbescheid. Die Universität klagte und gewann nach jahrelangem Rechtsstreit. Trotzdem gilt das Verfahren als politischer Sieg für Sanders, seit der öffentlichen Diskussion hat die Universität ihre Gesundheitsversorgung für Arme ausgeweitet. Keiner, verspricht Sanders nun seinen Anhängern, werde als Präsident härter gegen soziale Ungleichheit, Gender-Pay-Gap, Masseninhaftierung und institutionellen Rassismus kämpfen. Letzteres war nicht immer so. Mitglieder der Antirassismus-Kampagne »Black Lives Matter« unterbrachen Sanders Wahlkampfauftritt in Seattle, weil er die Anliegen der Schwarzen in den USA nicht ernst genug nehme. Seitdem hat Sanders die Themen Polizeigewalt und Minderheitenrechte vermehrt in seine Wahlkampfreden aufgenommen. Er betonte auch, dass er als Student in Chicago während der sechziger Jahre in der Bürgerrechtsorganisation Student Nonviolent Cordinating Committee (SNCC) organsiert war und als Senator gegen den Patriot Act gestimmt hat. »Wenn ich Bernie heute auf Wahlkämpfen reden höre, denke ich: Ich kenne jedes Wort«, sagt Jim Schumacher. Schumacher ist ein »Sanderista«, wie man altgedienete Weggefährten Sanders liebevoll-spöttisch nennt, in Anspielung darauf, dass Sanders 1985 Nicaraguas sandinistischer Regierung einen Solidaritätsbesuch abstattete. Im Jahr darauf unterstütze Schumacher Sanders’ Kandidatur als Gouverneur gegen die Demokratin Madeleine Kunin. Die Entscheidung, gegen Kunin anzutreten, machte Bernie Sanders bei vielen Demokraten etwa so beliebt wie heute seine Entscheidung, gegen Hillary Clinton zu kandidieren. Kunin war die erste jüdische Frau auf einem Gouverneursposten. Dass Sanders sie von links mit einer sozialen Agenda angriff, empfand man als besonderen Affront. Ähnlich meinen heute viele Demokratinnen und Demokraten, mit Clinton sei es Zeit, dass endlich eine Frau Präsidentin werde. Andere fürchten, Sanders stehe zu weit links, um eine Chance gegen einen republikanischen Kandidaten zu haben, und erachten seine Kandidatur als strategisch zu riskant. 1986 verlor Sanders gegen Kunin, aber er gab nicht auf. »Als Bernie dann 1990 für den Kongress kandidierte, haben wir jede einzelne Wählerin angerufen«, erinnert sich Schumacher. Wenn Sanders nicht in Washington war, bereiste er an den Wochenenden jede Ecke von Vermont. »Bernie« habe stets den Kontakt zu den Leuten gesucht und dieses Engagement habe sich ausgezahlt. Inzwischen ist es Herbst und der deutliche Vorsprung, den seine Rivalin Hillary Clinton als Favoritin anfangs hatte, schwindet von Tag zu Tag. Landesweite Umfragen, die am Samstag vergangener Woche veröffentlicht wurden, zeigten ihn mit 31 Prozent der befragten Demokratinnen und Demokraten nur acht Prozentpunkte hinter Clinton. In zwei Bundesstaaten würde Sanders sogar doppelt so viele Stimmen bekommen wie Clinton. Burlington ist heute im Grunde eine typische kleine US-College-Stadt, nur dass sie zugleich mit etwas über 200 000 Einwohnern in ihrem weiten Einzugsgebiet die größte Stadt des Bundesstaats ist, was ungefähr einem Drittel der Bevölkerung des ganzen Staates entspricht. Nicht von ungefähr galt Vermont lange Zeit als der Bundesstaat mit mehr Kühen als Einwohnern. Die Landeshauptstadt Montpelier zählt gerade einmal 8 000 Seelen. Albert Villa, Bahnhofsvorsteher des ausgelagerten Bahnhofs Burlingtons im Vorort Essex-Junction, erklärt den etwa 20 Wartenden, die sich auf die achtstündige Zugreise nach New York City machen: »Wenn ihr in New York Penn Station aussteigt, werdet ihr dort mehr Menschen antreffen als im gesamten Staat Vermont.« Wie »Ben & Jerry’s«-Eiscreme erscheint Sanders als Produkt Vermonts. Eigenwillig, individualistisch und auf renitente Weise dem Gedanken der Unabhängigkeit verpflichtet zu sein, hat hier Tradition. Vermont war nicht nur einer der ersten Bundesstaaten, der am 1. September 2009 die gleichgeschlechtliche Ehe einführte. Schon 1777 wurde die Sklaverei in der Verfassung abgeschafft, wenn auch Vermont wegen seiner recht homogenen ethnischen Zusammensetzung bis heute als weitgehend »weißer« Staat gilt. Vierzehn Jahre lang blieb Vermont ein souveräner Staat, erst 1791 trat Vermont den Vereinigten Staaten bei. Seitdem hat der »Green State« stets Abweichler und Freigeister aller Art angezogen. Im 19. Jahrhundert galt Vermont als eine Keimzelle der Bewegung gegen die Sklaverei. In den Marmorsteinbrüchen des Städchens Barre organisierten sich sozialistische und anarchistische Arbeiter. Heute erinnern daran nur noch die kunstvollen Grabsteine auf dem Friedhof von Barre. Die zumeist aus Italien stammenden Steinmetze schufen sich in ihrer spärlichen Freizeit ihre eigenen Grabsteine, auf denen sie sich selbst als Statuen und Reliefs verewigten – die Sozialisten, so heißt es, stets mit Schlips, die Anarchisten mit Fliege. In sechziger und siebziger Jahren zog es Hippies und andere Aussteiger in den extrem dünn besiedelten Bundesstaat. »Es gab eine Stimmung in den Sechzigern, dass wir den Bundesstaat übernehmen würden«, erinnert sich Dan Chodorkoff, der ebenfalls in jener Zeit aus New York nach Vermont kam. Er wohnt heute mit seiner Frau Betsy etwa eine Stunde Autofahrt östlich der »Ben & Jerry’s«-Fabrik auf einem großen Anwesen mit Obstgärten. Hier findet seit einigen Jahren die jährliche Versammlung des Institute for Social Ecology (ISE) statt. Zusammen mit dem inzwischen verstorbenen Philosophen Murray Bookchin, dem Vordenker des Gedankens einer »sozialen Ökologie«, gehört Chodorkoff zu den Mitbegründern des kapitalismuskritischen Instituts. Wenn Chodorkoff »wir« sagt, meint er die zugezogenen jungen Leute, vorwiegend aus New York, zumeist irgendwie links, vor allem aber gegen den Krieg in Vietnam und nicht selten aus jüdischem Elternhaus. Angesichts der geringen Bevölkerungsdichte des traditionell von Kleinbauern und Subsistenzwirtschaft geprägten Gebiets hatten diese Zuzüge eine einschneidenden Auswirkung auf die politische Kultur – was nicht zuletzt den Aufstieg Bernie Sanders’ erst ermöglichte. Vermont wurde innerhalb weniger Jahre von einem durchweg republikanisch wählenden zu einem konsequent demokratisch wählenden Staat. »Wobei das schon eine andere Art von Republikanern war, als wie sie heute kennen«, sagt Chodorkoff ein wenig weghmütig. Bei Vermonts Republikanern sei aber der Gedanke des live and let be immer noch stärker vorhanden als in anderen Teilen des Landes, wo die Partei zum Sammelbecken »religiösen und weltanschaulichen Ressentiemnts« verkümmert sei. In Vermont wird Bernie Sanders aber auch von Konservativen gewählt, die ihn als verlässlichen Vertreter ihrer Interessen schätzen. Dazu war Sanders auch zu einer Konzession bereit, er spricht sich gegen den Konsens des progressiven Lagers für das Recht auf den Besitz und das Tragen von Waffen aus. Das habe auch soziale Gründe, erklärt Dan Chodorkoff: »Für viele arme Vermonter bedeutet der Besitz eines Gewehrs die Möglichkeit, einmal die Woche Fleisch auf dem Teller zu haben – und wenn es nur ein Eichhörnchen ist.« »Bernie ist kein Phänomen der counter culture«, erklärt Huck Gutman. Der Universitätsprofessor mit dem grau-weißen Bart erscheint mit der gelben Baseball-Mütze der Universität Vermont, Sonnenbrille und Birkenstocksandalen zu einem iced coffee im Café der August First Bakery in Burlingtons South Champlain Street. Sanders’ Thema seien, so Gutman, von Anfang an immer die working people gewesen. Huck Gutman war Sanders’ Büroleiter im Senat von 2006 bis 2012. In Washington war der Professor für Englische Literatur an der University of Vermont berühmt dafür, bei Ausschusssitzungen Gedichte zu rezitieren. Es ist aber nichts blumig an Gutmans Sprache, weder in seinen Gedichten, noch wenn er über Politik spricht. Er kommt direkt zur Sache. »Bernie hat eine Botschaft und Amerikaner sind bereit, sie zu hören«, sagt er. Die arbeitende Bevölkerung leide. Seit über 30 Jahren stagnieren die Löhne. Selbst zwei Jobs reichen kaum zum Überleben, besonders hart treffe es Alleinerziehende. Die Hochschulen sind unbezahlbar geworden. Gutman kennt die Situation zu gut, nicht nur in Vermont. Sechs Wochen ist er mit dem Fahrrad durch die Vereinigten Staaten getourt, von Minneapolis, Minnesota, bis zurück nach Burlington. Ein Bild des Zerfalls habe sich ihm geboten. Verbretterte Main Streets in einst blühenden Gemeinden. »Die einzigen Städte, die noch so etwas wie eine funktionierende Ökonomie hatten, waren die in der Nähe eines Gefängnisses«, sagt er verbittert. Er wirkt wütend und zerknirscht. Man merkt, dass er wirklich mitfühlt. Auf seine Weise ist er, der Parteigänger des parteilosen Politikers Sanders, der sich lange Zeit als »demokratischer Sozialist« bezeichnete, ein Patriot eigener Art. Gutmans Eltern kamen als jüdische Flüchtlinge in den dreißiger Jahren aus Deutschland. Seine Mutter war gerade einmal 17 Jahre alt. In den sechziger Jahren politisierte ihn die Bewegung gegen den Krieg in Vietnam, seine Eltern sahen das nicht gern. Zum einen ließen sie auf das Land, das ihnen ein Überleben und eine Zukunft ermöglicht hatte, nichts kommen, aber auch »weil sie in Europa die Erfahrung gemacht hatten, dass Leute, die den Staat kritisieren, nicht gut enden«. Die Erfahrung der Eltern hat ihn nichtsdestoweniger geprägt. Auch Sanders sagt, er sei »stolz, jüdisch zu sein«, und ist zugleich nicht sonderlich religiös. Es muss nicht verwundern, dass sich die beiden Männer verstehen. Sie teilen beide das Erbe eines säkularen amerikanischen Judentums. Bernie Sanders erscheint wie ein eigenwilliges Produkt jüdischer Emanzipation in Amerika. Wer das verstehen will, muss dahin gehen, wo diese Geschichte ihren Anfang nahm, nach Manhattan und Brooklyn, New York. Erst kamen deutsche Juden um 1850. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts folgten osteuropäische Juden in großer Zahl, um sich aus den Sweatshops der Textilproduktion in Manhattans Lower East Side langsam nach oben zu arbeiten. Während das jüdische New York aus den unterschiedlichsten sozialen Klassen, religiösen Kongregationen und politischen Richtungen bestand, war es die sozialistische Arbeiterbewegung, die eine klare politische Hegemonie ausübte. Die Zeiten, in denen jüdische Amerikanerinnen und Amerikaner mehrheitlich den Sozialismus herbeisehnten, sind zwar lange vorbei, aber trotzdem hat diese Tradition Spuren hinterlassen – in Form eines ausgeprägten sozialen Gewissens. Für Phil, den Besitzer der August First Bakery, ist Bernie »ein Held«. Dem Kleinunternehmer mit 20 Angestellten sind manche Programmpunkte »ein wenig zu sozialistsich«, aber »nur ein wenig«. Im Grunde sei Vermont ein »großartiger Ort, um business zu machen«. Weil es so klein und überschaubar sei. »Der Gouverneur ist praktisch dein Nachbar«, so Phil. In seinen Worten erscheint ausgerechnet Vermont, mit seinem sozialistischen Senator, wie der Ort, als der amerikanische Traum lebendig ist und jeder seinen Nachbarn persönlich kennt – eben so, wie es sich viele Amerikaner und Amerikanerinnen wünschen.