Debbie Bookchin im Gespräch über Bernie Sanders und die US-Linke

»Sanders drängt Clinton nach links«

Debbie Bookchin begann in den achtziger Jahren unter anderem für die Zeitschrift The Nation über den parteilosen »demokratischen Sozialisten« Bernie Sanders, damals Bürgermeister von Burlington im US-Bundesstaat Vermont, zu berichten. Nach Sanders’ Wahl in dem Kongress im Jahr 1990 arbeitete sie drei Jahre als seine Pressesprecherin. Derzeit widmet sie sich der Publikation des Werks ihres Vaters, des ka­pitalismuskritischen Vordenkers der Ökologiebewegung, Murray Bookchin (1921–2006). »Die nächste Revolution«, eine von ihr mitherausgegebene Sammlung vergriffener Essays Murray Bookchins, erschien im September auch auf Deutsch.

Bernie Sanders gilt als der Überraschungskandidat des Sommers im amerikanischen Vorwahlkampf um die demokratische Präsidentschaftskandidatur – haben Sie eine Erklärung dafür? Sanders’ Botschaft ist seit Jahrzehnten unverändert: »Das politische System favorisiert Großkonzerne und eine Einprozent-Oligarchie, welche die politischen Entscheidungen trifft.« Für die Mittelschicht ist das Leben in den vergangenen zwei Jahrzehnten kontinuierlich schlechter geworden. Ich denke, Bernies leidenschaftliche »sag-es-wie-es-ist«-Rhetorik mit seinem ungeglätteten öffentlichen Auftritt erklären den enormen Andrang bei seinen Veranstaltungen und die spontane Welle der Unterstützung. Bernies starke ökonomische Botschaft, kombiniert mit der Authentizität, die er ausstrahlt, kommt bei den Leuten an. Wie nutzt Sanders’ Kampagne diesen Vorteil gegen seine Hauptkonkurrentin, Hillary ­Clinton? Sanders starker Auftakt resultiert zumindest teilweise aus seiner starken Präsenz in den sozialen Netzwerken, was die Menschenmengen und die vielen Freiwilligen erklärt, die er innerhalb weniger Monate mobilisiert hat. Es wird sich zeigen, ob es seiner Kampagne gelingt, diese rohe Energie in einen effektiven Wahlkampfapparat zu kanalisieren, so wie es die Obama-Kampagne 2008 geschafft hat. Für Clinton war es kein guter Sommer angesichts einiger hausgemachter Krisen, etwa dem Skandal um den vorschriftswidrigen Gebrauch ihrer privaten E-Mail-Adresse als Außenministerin. Ihre Ansichten klingen oft vorverpackt, sie reagiert herablassend auf Kritik und wird als »Insider« des Washingtoner Polit-Establishments gesehen. Wie reif ist Amerika für Bernies soziale Agenda? Europäer verstehen meist nicht, wie katastrophal die Situation in den Vereinigten Staaten heute ist. Die letzten Präsidenten haben durchweg – egal ob Clinton, Bush oder Obama – im Sozialwesen drastisch gekürzt. Heute leben 15 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, also 47 Millionen Menschen – das entspricht der Gesamtbevölkerung Spaniens. Die Reallöhne stagnieren seit 30 Jahren, während Amerikaner länger arbeiten als jemals zuvor und so gut wie keinen Urlaub nehmen. Universitäten sind für die meisten unbezahlbar geworden. Wer heute mit Anfang 20 graduiert, wird die nächsten Jahrzehnte damit verbringen, seine Schulden abzuzahlen. Die Kosten des Gesundheitswesens sind – trotz der Reform unter Obama – außer Kontrolle. Sanders übertreibt nicht, wenn er sagt, dass viele ältere Menschen gezwungen sind, sich zwischen ihren Medikamenten und einer Mahlzeit zu entscheiden. Er ist der einzige Kandidat, der darüber spricht. Sanders ist nicht in der Demokratischen ­Partei – wie kann er da überhaupt als Demokrat nominiert werden? Obwohl du ein eingetragenes Mitglied der Partei sein musst, um in den Vorwahlen der Demokraten abstimmen zu können, kannst du als Präsidentschaftskandidat für die Demokraten nominiert werden, ohne je registriertes Mitglied gewesen zu sein – du musst nur die Nominierung gewinnen. Obwohl sogenannte »dritte Parteien« in den USA auf lokaler Ebene durchaus erfolgreich sein können, werden sie im nationalen Rahmen fast immer marginalisiert. Sanders bekommt wesentlich mehr Aufmerksamkeit, weil er als Demokrat kandidiert. Das ist seine einzige Chance. Was genau steht denn auf seiner Agenda? Sanders hat verstanden, dass man nicht über die grotesken Einkommensunterschiede in den USA reden kann, ohne die Rolle des Steuersystems, des Bankenwesens und der großen Konzerne anzusprechen. Der Reformbedarf ist enorm. Sanders’ ökonomisches Programm hat viele Elemente – eine progressivere Einkommenssteuer, die Abschaffung von Steueroasen für Großkonzerne, die Wiedereinführung der Trennung kommerzieller Banken von Investmentinstitutionen, um Spekulation mit privaten Ersparnissen zu verhindern, bezahlbare höhere Bildung sowie ein umfassender, obligatorischer und nicht gewinnorientierter Krankenversicherungsschutz wie in skandinavischen Ländern. Sanders hat jetzt schon Clinton viel weiter nach links gedrängt, als sie je vorhatte zu gehen. Sie ist gezwungen worden, mit einem eigenen Programm für Arzneimittelverschreibungen anzutreten, weil das ein Thema war, das Bernie aufgebracht hat. Und wenn Bernie es nicht getan hätte, hätte sie sich auch niemals gegen die Key­stone-Ölpipeline positioniert. Selbst wenn Sanders die Nominierung verliert, hat er schon eines seiner Ziele erreicht – die soziale Frage zum Thema zu machen. Wie stehen die amerikanische Linke und Wähler der Demokraten zu Bernie Sanders? Sanders ist bei vielen Linken beliebt. Aber wie bei seinen Wahlkämpfen zum Kongress zielt Sanders Kampagne nicht auf die Linke, die ohnehin marginal ist, sondern auf die Mittelschicht und die Arbeiter – die Wähler, die zu Zeiten von Franklin D. Roosevelt, Truman und Kennedy die Mehrheit der demokratischen Wähler gestellt haben. Sanders wurde zu Beginn seiner Kampagne aus dem Umfeld der Kampagne »Black Lives Matter« scharf kritisiert –wie ist sein Verhältnis zu den sogenannten Minderheiten und zu Frauenrechten? Eigentlich ist sein Abstimmungsverhalten sowohl in Minderheiten- als auch in Frauenfragen eindeutig. Aber es ist unwahrscheinlich, dass er die demokratische Nomination nach dem »Super Tuesday« im März 2016 – da finden in mehreren Bundesstaaten zeitgleich Vorwahlen statt – gewinnen wird, wenn es ihm nicht gelingt, dramatisch zu verändern, wie Angehörige ethnischer Minderheiten ihn wahrnehmen. Sie machen nun einmal einen großen Teil der demokratischen Wählerschaft aus. Diese Vorwahlen finden hauptsächlich in den Südstaaten und in konservativen Staaten statt, wo Hillary Clinton von der Popula­rität ihres Mannes bei spanischsprachigen Wählern profitiert. Bernies Sichtweise, die Belange von Schwarzen und hispanics als Teil eines breit­angelegten ökonomischen Problems zu sehen, steht im Widerspruch zur vorherrschenden Identitätspolitik. Unstrittig ist, dass Polizeigewalt für Schwarze in Amerika eine akute Gefahr ist. Nach dem holprigen Start hat sich Sanders expliziter der Botschaft von »Black Lives Matter« angenommen. Ich bin mir sicher, dass seine Kampagne inzwischen eine ganze Abteilung hat, die sich ausschließlich um diese Fragen kümmert. Bislang spricht Sanders ja fast ausschließlich zu innenpolitischen Themen und so gut wie nie über internationale Politik. Warum? Bernie bekommt viel Unterstützung von Veteranen und hat sich, mit wenigen Ausnahmen, etwa beim Kosovokrieg, immer gegen militärische Interventionen ausgesprochen. Seit dem Golfkrieg von 1991 hat er bewusst gegen quasi jede US-Intervention gestimmt. mit Ausnahme von Afghanistan im Jahr 2001. Es sagt, eine Koalition nahöstlicher Staaten, insbesondere Saudi Arabien und Kuwait, sollte den Kampf gegen den »Islamischen Staat« führen. Amerikaner sind heute im Grunde Isolationisten. Sie sind auf traurige Weise desinteressiert an dem, was sich außerhalb ihres eigenen Landes abspielt. Insbesondere für die Wähler, die Sanders versucht zu gewinnen, hat internationale Politik keine Priorität – es geht ihnen um die amerikanische Wirtschaft. Man kann sich darüber streiten, ob Sanders Positionen an Isolationismus grenzen, aber sein politischer Fokus ist in erster Linie die US-Ökonomie. Zur internationalen Politik bezieht er durchaus Position: Er steht auf der Seite der griechischen Bevölkerung gegen die Austeritätspolitik der Troika. In der Syrien-Frage ist er eher konservativ und zieht Verhandlungen einer Intervention vor. Über die Kurden in Rojava hat er nie ein Wort verloren, was bedauerlich ist. Im Nahostkonflikt hat er eine Zweistaatenlösung be­fürwortet und Gewalt auf beiden Seiten verurteilt. Aber er hat stets vermieden, Israel einseitig zu verurteilen, was sonst in der amerikanischen Linken üblich ist. Er betont, dass es wichtig sei, zwischen Israel und Netanyahu zu unterscheiden. Könnte Bernie als Kandidat gegen einen Republikaner gewinnen? Es ist ein weiter Weg bis zur Wahl im November 2016. Sanders’ Chancen hätten viel damit zu tun, gegen wen er anträte. Die Republikaner sind so weit nach rechts gerückt in der Abtreibungsfrage und anderen sozialen Themen, dass es momentan eher schlecht für sie aussieht. Aber wegen der Entscheidung des Verfassungsgerichts von 2010, die effektiv den Kauf von Wahlen durch große Konzerne und Industrielle wie die Koch-Brüder ermöglicht, ist leider vieles denkbar. Und Sanders führt zwar in den ersten Vorwahlumfragen in Iowa und New Hampshire gegenüber Clinton, doch das sind weitgehend »weiße«, sehr liberale Staaten, die in vieler Hinsicht nicht repräsentativ sind für den Rest des Landes. Sollte er sich dennoch durchsetzen und sein Gegenspieler wäre ein rechter Republikaner wie Trump oder Ted Cruz, dann denke ich, könnte er gewinnen.