Reaktionen auf die Anschläge von Paris in sozialen Medien

Die Hashtag-Verschwörung

Nach den Anschlägen von Paris verbreiteten sich in Windeseile Bilder, Gerüchte und Theorien im Internet.

In den sozialen Medien ist nach Terroranschlägen eine gewisse Routine unter Usern jeglicher Couleur eingezogen: Nach dem ersten Schock und den flammenden Apellen, die jeweilige Tragödie nicht politisch auszunutzen, begeben sich umtriebige Twitter-Nutzer auf ihre jeweilige politische Position und beginnen umgehend damit, das Geschehen zum Beleg für die absolute Richtigkeit ihre jeweiligen Weltanschauung zu erklären. Nach der Anschlagsserie in Paris am Freitag vergangener Woche verhielt sich allerdings eine Gruppe nicht so, wie sie es normalerweise tut. Fakten müssen nämlich nur ins eigene Weltbild passen und schon werden sie auch umstandslos von normalerweise unerschütterlich an große Verschwörungen glaubenden Menschen als unumstößliche Wahrheit akzeptiert. Im Gegensatz zu den Pariser Terroranschlägen vom Januar, wo Rechte wie Linke rasch jede Menge Verschwörungstheorien ausgearbeitet und verbreitet hatten, blieben die meisten Verschörungsideologen diesmal bemerkenswert still. Die Morde passten schließlich gut in den Kram derjenigen, die fest daran glauben, dass im Prinzip jeder Flüchtling, der nach Europa kommt, ein verkappter IS-Kämpfer ist, dessen Auftrag die Islamisierung Deutschlands beziehungsweise Europas oder die Massakrierung aller Einheimischen sei.

Zum ersten Mal wurde nicht sofort nach den ersten Breaking News behauptet, dass es sich um eine False-Flag-Aktion der USA oder des Mossad handele. Und während nach jedem Anschlag seit 9/11 der Umstand, dass Ermittler persönliche Papiere von Tätern fanden oder sie diese sehr schnell identifizieren konnten, als Indiz für die Verwicklung mindestens von Geheimdiensten betrachtet wurde und zu seitenlangen Verschwörungsaufsätzen führte, akzeptierte man den Fund eines syrischen Passes diesmal umstandslos als Tatsache. Entsprechend schnell kursierten in diesen Kreisen hämische Fotomontagen wie die, die vom Legida-Twitteraccount in Umlauf gebracht wurde: »Sowas« stand über einem Bild von Pariser Opfern, »kommt von sowas« hieß es darunter, wo Menschen mit einem »Refugees Welcome«-Schild gezeigt wurden.

Dass deutschen Rassisten die Anschlagsserie wunderbar ins Konzept passte, bedeutete allerdings nicht, dass andere Bevölkerungsgruppen nicht doch Verschwörungstheorien verbreiteten: »Inshallah werden die muslimischen Länder wach und verteidigen sich gegen diese gottlosen Hunde von den Zionisten!« kommentierte beispielsweise der User Furkan Y. auf Facebook – dass der IS im Grunde eine israelische Erfindung sei, um unter anderem den Islam zu diskreditieren, ist eine von Verschwörungstheoretikern gern verbreitete Behauptung.
So sehen das auch US-Truther, denen die deutsche Flüchtlingspolitik vollkommen egal ist. Ein englischsprachiger Twitter-Account mit dem Nick »Resistance francaise« verbreitete dazu passend: »Die Zionisten versuchen, die EU verzweifelt mit Flüchtlingen zu überfluten, damit sie False-Flag-Attacken wie in Paris durchführen können.«
Der Anschlag sei an Schabbat passiert, wo viele französische Juden zu Hause waren, twitterte der Journalist Yair Rosenberg, »es wird wohl nicht lang dauern, bis irgendwer das Gerücht in die Welt setzt, dass sie daheim waren, weil sie vorher über die Attentate informiert wurden.«
Daran ändert nichts, dass mit dem Bataclan am Freitag vergangene Woche auch ein jüdischer Veranstaltungsort angegriffen wurde, der nach einem Bericht des französischen Nachrichtenmagazins Le Point wegen dort stattfindender Veranstaltungen mit Israel-Bezug nicht nur mehrfach und, wie Videos zeigen, bereits 2006 im Mittelpunkt antizionistischer Demonstrationen und Drohungen gestanden hatte. Im Jahr 2011 hatte die von Damaskus aus operierende islamistisch-salafistische Gruppe »Jaish al-Islam« einen Anschlag auf die traditionsreiche Konzerthalle geplant, mit der Begründung, dass die Besitzer ­Juden seien.
Solche Hintergrundartikel, die durchzulesen und einzuordnen durchaus eine Viertelstunde braucht, werden allerdings bei Twitter nur selten zur Kenntnis genommen. Gefragt sind eher plakative Statements und Abbildungen, die zur eigenen Haltung passen und deswegen vor dem Retweet nur selten auf Plausibilität oder Quellen geprüft werden. Und so schlägt unweigerlich sehr schnell die große Stunde der Bilder- und Nachrichtenfälscher.

Am schlimmsten traf es einen Mann namens Veerender Jubbal, der auf Twitter sehr schnell als einer der Attentäter identifiziert wurde – die internationale Twitter-Useria beteiligt sich nach Verbrechen aller Art mit großer Freude an der Suche nach Klarnamen und Lebensumständen von Mördern und zeigt dabei eine hartnäckige Lernunfähigkeit. Denn trotz der Tatsache, dass man regelmäßig falsch liegt und Bilder, Namen und persönliche Details Unschuldiger verbreitet, fällt man immer wieder auf aus purer Bösartigkeit verbreitete Fälschungen herein. Einen Moment abzuwarten und Quellen zu überprüfen, passt nicht zur fieberhaften Hobbyermittler-Atmosphäre, die für Twitter nach spektakulären Verbrechen so typisch ist. Dass Journalisten mittlerweile oft lieber auf Twitter verbreitete Informationen beziehungsweise Desinformationen nutzen, als selbst zu recherchieren, macht es den Fälschern zusätzlich leicht, gezielt Rufmord zu begehen oder Hass zu verbreiten.
Das Foto von Jubbal, der, eine Selbstmordweste tragend, grinsend einen Koran hochhielt, wurde in der gesamten Twitterwelt mit dem Hinweis verbreitet, es handele sich um einen der Attentäter. Was als Beweis für Fanatismus und Kaltblütigkeit eines IS-Mörders bewertet wurde, entpuppte sich allerdings später als hinterhältige Bildfälschung: Im ursprünglich harmlosen Selfie wurde das iPad durch einen Koran ersetzt, auch die Weste wurde nachträglich hineinmontiert. Das Fake-Foto des vermeintlichen Täters landete sogar auf der Titelseite der spanischen Zeitung La Razón. Jubbal reagierte schließlich auf Twitter: Er bitte um viele Retweets seiner Nachrichten, schrieb er, denn das gefälschte Bild habe sich derart weit verbreitet, dass er einfach die Hilfe anderer User bei der Richtigstellung benötige. Und dann zeigte der Kanadier nicht nur das Originalfoto, sondern gab auch noch Nachhilfe darin, Details auf Fotos richtig zuzuordnen: Wie man eigentlich deutlich sehen könne, sei er »ein Turban tragender Sikh«, schrieb er, »lernt einfach mal den Unterschied zwischen Muslimen und Sikhs«. Dem Bilderfälscher war dies vermutlich ohnehin klar. Der Journalist Jubbal dürfte zum Opfer auserkoren worden sein, weil er sich in der Gamergate-Affäre ganz klar gegen den von vielen Frauen beklagten Sexismus in der Gamer-Szene ausgesprochen hatte.