Jürgen Todenhöfers Geschichten über den Nahen Osten

Jürgen Ben Nemsi

Einen Tag vor den Terroranschlägen von Paris feierte Jürgen Todenhöfer seinen 75. Geburtstag. Ein Porträt des liebsten Nahost- und Islamerklärers der Deutschen.

Mit Gelfrisur und in Jeans betritt er, begleitet von herzlichem Applaus, den Saal. »Happy Birthday, Jürgen Todenhöfer«, singt das Publikum. Der Besungene liest im Anschluss drei Stunden lang aus seinen Büchern über Abenteuerreisen in die Kriegsgebiete des Mittleren Ostens.
Wie jemand Geburtstag feiert, sagt oft einiges über die Persönlichkeit aus. Jürgen Todenhöfer beging seinen vor einer Woche in der ausverkauften Berliner Konzerthalle »Huxley’s Neue Welt« mit besagter Lesung. Er inszenierte sich dabei als Mann von Welt und zugleich legerer Kumpeltyp. Mit sichtlichem Stolz zeigte der 75Jährige seine Blessuren vom letzten Fußballspiel – einen gebrochenen Finger und ein blaues Auge.
Amateurfußball und Amateurtheologie sind die beiden großen Leidenschaften, die sich leitmotivisch durch Todenhöfers Erzählungen ziehen – im Mittleren Osten hat Todenhöfer Kinderaugen zum Leuchten gebracht, indem er einen Fußballplatz für den Weltfrieden gestiftet hat. »Und ein Kind zum Lachen zu bringen«, so Todenhöfer halb verträumt, »das ist das Schönste, was es gibt.«
Zur Feier des Tages hat sich Todenhöfer offenbar dazu entschieden, sich von seiner mildesten und verständnisvollsten Seite zu zeigen. Er ist bekannt dafür, dass er viel Verständnis für den Islam und Syriens Diktator Bashar al-Assad hat – an diesem Tag zeigt der häufig des Antiamerikanismus Gescholtene Verständnis für Amerikaner. Ein gewagtes Spiel, droht es doch zumindest bei einem Teil seiner Fans auf Unverständnis zu stoßen. Todenhöfer liest aus seinem Buch »Andy und Marwa« über das Schicksal des jungen puertoricanisch-amerikanischen Rekruten Andy, der in den ersten Tagen der Irak-Invasion fällt. In Todenhöfers Lesart ein weiteres Opfer von George W. Bushs »mörderischer Politik«. Eine Frau ist zu Tränen gerührt, wohingegen ein junger Mann, dessen Hals aus einem gigantischen Palästinensertuch ragt, sich in Rage redet. »Das waren Aggressoren«, sagt er, während sich seine Stimme vor Aufregung fast überschlägt, »die keine Gnade verdient haben«.
An anderer Stelle verurteilt Todenhöfer die deutschen Rüstungsexporte, mit denen Deutschland »fast alle Staaten der Region beliefert – mit Ausnahme Palästinas«. »Das palästinensische Volk braucht keine deutschen Waffen«, ruft eine Frau in den vorderen Reihen. »Es hat Steine!« Todenhöfer schaut sie daraufhin lange verständnisvoll an und erklärt dann in salbungsvoller Stimme, dass er nicht glaube, dass die Palästinenser mit Steinen, Raketen oder Messern etwas erreichen würden. »Stellen sie sich vor, die ganze Bevölkerung von Gaza würde mit weißen Tüchern an die Grenzen ziehen«, sagt er, »das wäre ein Zeichen, das die Welt nicht ignorieren könnte«. Es folgt ausgelassener Applaus in der vorderen Hälfte des Saals, verhaltener Applaus und offensichtliche Skepsis in den hinteren Reihen.

Jürgen Todenhöfer meldet sich nach dem 11. September 2001 – nach einem guten Jahrzehnt der Abstinenz – wieder in die Politik zurück, wie er selbst sagt auf Anregung seiner Kinder. Inzwischen ist er als Kritiker vor allem der US-Interventionspolitik weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt. In einer zunächst merkwürdig wirkenden, aber bei genauer Betrachtung durchaus konsequenten Wandlung ist er vom Unterstützer der sogenannten »Stahlhelmfraktion« um den rechten hessischen CDU-Politiker Alfred Dregger, also einem überzeugten Rüstungspolitiker und Kalten Krieger in den siebziger und achtziger Jahren, zu einem der profiliertesten und prominentesten deutschen Antiimperialisten und Interventionsgegner geworden. In den Siebzigern verteidigte er noch die Unterstützung der Pinochet-Diktatur in Chile, in den Achtzigern kraxelte er mit den afghanischen Mujahedin über den Hindukusch. Noch heute, während seiner Lesung, bezeichnet Todenhöfer die afghanischen Mujahedin als »Freiheitskämpfer«. Er nahm an Weihnachten 1984 »unbewaffnet«, wie später der Spiegel berichtete, an einem Angriff auf eine sowjetische Garnison teil. Von sowjetischer Seite wurde er, damals Bundestagsabgeordneter des Landkreises Tübingen-Hechingen, als »Bandit im Bundestag« und als »parlamentarischer James Bond« bezeichnet. Ehrentitel, die Todenhöfer heute noch genüsslich zitiert, während er beschreibt, wie er zusammen mit einer Gruppe »Freiheitskämpfer« sich vor einem sowjetischen Kampfhubschrauber in einem Erdloch verstecken musste. Obwohl der Pilot ihn gesehen haben müsste, beschießt er eine einige Kilometer entfernte Baumgruppe – ein kleines Wunder, durch das die Gruppe überlebt. Todenhöfer gibt sich heute fest davon überzeugt, dass bei dem jungen russischen Piloten in diesem Moment die Menschlichkeit gesiegt und er die Gruppe absichtlich verschont habe.
Das ist der Tenor, der sich durch alle Erzählungen Todenhöfers zieht – Krieg ist schrecklich, die Opfer sind Zivilisten und junge Menschen, die in den Krieg geschickt werden, um für imperiale Ambitionen, Öl oder die Rüstungsindustrie zu töten oder zu sterben. Vor allen systemischen Übeln sieht Todenhöfer das Problem bei persönlichen Fehlern von schlechten politischen Führern – Bush habe letztlich nur so gehandelt, weil er wegen schlechter Noten aus der Schulzeit noch immer Angst gehabt habe, als Versager dazustehen.
Der Widerstand gegen imperialistische Politik ist demnach legitim, oder mindestens nachvollziehbar. Und wenn das ganze Spiel zu lange geht, kippt die Sache des Widerstands, und einige Widerständler enden bei noch radikaleren Gruppen wie al-Qaida oder dem »Islamischen Staat«. Schuld ist daran aber immer der ursprüngliche Aggressor – und während Todenhöfer früher die Sowjetunion in dieser Rolle sah, sind es seit 9/11 vor allem die Vereinigten Staaten. Und Israel ­sowieso.
Dabei legt Todenhöfer großen Wert darauf, dass er weder Pazifist, noch Antiamerikaner sei. Israels Existenzrecht habe er, wie er gerne auf Veranstaltungen und in Interviews zum Besten gibt, dort verteidigt, wo es sich sonst keiner trauen würde – als er hohe schiitische Geistliche in Teheran besuchte.

Der Zeitpunkt, an dem Todenhöfer begann, dem 2014 verstorbenen Peter Scholl-Latour den Rang als Deutschlands oberster Nahosterklärer abzulaufen, lässt sich ziemlich genau auf das Jahr 2001 datieren. Historiker streiten sich, wann genau das 20. Jahrhundert zu Ende ging – 1989 mit dem Zusammenbruch des Ostblocks oder 2001 mit den Angriffen auf New York und Washington. Dazwischen gab es so etwas wie die langen neunziger Jahre, in denen die Geschichte nach dem geflügelten Wort des amerikanischen Politologen Francis Fukuyama geendet hatte. Eigentlich war es eine Zeit, in der zumeist immer noch alte Männer alter Schule das Sagen hatten, zum Beispiel Peter Scholl-Latour, der trotz oder wegen seiner trashigen rassistischen und sexistischen Auslassungen irgendwie als authentischer Nahost-Kenner durchging. Als Selbstdarsteller und Sprücheklopfer war er Todenhöfer sicher haushoch überlegen. Seine Bücher hatten Titel wie »Das Schwert des Islam« und wie Todenhöfer gefiel er sich in der Rolle, westlichen Politikern »unbequeme Wahrheiten« über die Region zu erzählen, die sie angeblich nicht hören wollten, seine Zuhörerschaft aber offenbar umso mehr. Scholl-Latour, der 1979 Ayatollah Ruhollah Khomeini im Flugzeug bei seiner Rückkehr aus dem Exil nach Teheran begleitete, warnte gern und regelmäßig vor dem bevorstehenden Aufstand der muslimischen Massen gegen die westliche Demütigung.
Bei Todenhöfer verhält sich einiges ähnlich, und doch ist er ein ganz anderer, wesentlich zeitgemäßerer Typ. Ein bisschen Macho ist noch drin, aber höchstens beim Fußball. Im Vergleich zu Scholl-Latour ist Todenhöfer ein Softie. Scholl-Latour schaute Frauen eher mal auf die Brüste, als Menschen oder gar Kommunikationspartner schien er sie selten wahrzunehmen. Ganz anders Todenhöfer. Als im Mai 2015 der E-Mail-Verkehr zwischen ihm und der 21jährigen Tochter des syrischen UN-Botschafters und Assad-Vertrauten, Bashar Jafari, bekannt wurde, reichten die Reaktionen von Fremdscham bis Schadenfreude. Offenbar hatte Todenhöfer sein Interview mit Bashar al-Assad im Jahr 2012 nicht nur durch schamlose Anbiederung an den Diktator und Massenmörder bekommen, sondern auch dadurch, dass er seine Mittelsperson als »meine Prinzessin« umflirtete.

Todenhöfers Geburtstagslesung in Berlin fand genau einen Tag vor den islamistischen Massakern von Paris statt. Wenig überraschend meldet sich auch Todenhöfer kurz nach den Attacken auf seinem Blog zu Wort: »Liebe Freunde«, heißt es dort, »wer ein Herz hat, ist heute in Gedanken bei den Opfern von Paris. Und trauert und weint mit ihren Familien. Mord ist Mord, egal wer ihn begeht. Heute bin ich Franzose.«
Doch Todenhöfers Denken folgt immer dem gleichen Muster. Schon im nächsten Satz erklärt er, dass selbstverständlich nicht der Islam verantwortlich sei, sondern George W. Bush. Die Täter und ihre Motive rücken dabei völlig aus dem Fokus, so als wüsste Todenhöfer letztlich besser als sie selbst, warum sie so handelten, wie sie es taten. Der vom »Islamischen Staat« proklamierte Kalif Abu Bakr al-Baghdadi und seine Anhänger können tausendfach erklären, dass ihr Staat auf islamischen Prinzipien basiere. Todenhöfer streitet ihnen die Berechtigung dazu ab – aufgrund seiner eigenen Laienlektüre des Korans. Er inszeniert sich als christlicher Humanist und Mann von Welt, der den Westen wie den Osten bereist hat und beide kennt wie seine Westentasche. Im Grunde gibt er die fleischgewordene Karl-May-Figur – mutig bis ins Draufgängerische und gleichzeitig ein sympathischer Kumpeltyp, der nicht um Antworten auf die großen philosophischen und theologischen Fragen der Zeit verlegen und stets dem Frieden verpflichtet ist. So erfüllt er ein offenbar tief verankertes kulturelles Bedürfnis der Deutschen. Der Wunsch nach einem modernen Kara Ben Nemsi, der mit Palästinensertuch um den Kopf gewickelt durch die Wüsten und über die Berge zieht, ist offenbar groß.