In der britischen Regierungspartei wird um die Beziehungen zur EU gestritten

Streit um den Ausstieg

Die britische Regierung beginnt Verhandlungen über den künftigen Status Groß­britanniens in der EU und zeigt sich flexibel – zum Ärger der Euro-Skeptiker.

Die euroskeptischen Tories hätten von David Cameron mehr erwartet. Vor den Parlamentswahlen im Mai versprach er den Wählern der Konservativen ein Referendum über den Ausstieg aus der EU und eine kritische Neuverhandlung des EU-Vertrags. Jetzt, wo es ernst wird, zeigt sich der Premierminister allerdings nicht als der harte Verhandlungspartner, als der er sich zuvor den Wählern präsentiert hatte. Er ist nicht nur für einen Verbleib Großbritanniens in der EU, sondern auch bereit, entsprechende Kompromisse einzugehen.
In einem Brief an Donald Tusk, den Präsidenten des Europäischen Rates, legte Cameron vergangene Woche seine Forderungen dar, die längst nicht so weitreichend sind, wie ursprünglich ­erwartet worden war. Sein Verhandlungsplan basiert auf vier Punkten: Großbritannien soll die Möglichkeit erhalten, sich aus einer immer stärker integrierten Union herauszuhalten. Er will die Versicherung, dass eine integrierte Euro-Zone sich nicht gegen EU-Länder mit einer anderen Währung zusammenschließt. Die EU soll außerdem den Wettbewerb fördern, indem sie dies zum Kernpunkt der Union macht, den Binnenmarkt stärkt und Freihandelsabkommen abschließt. Wichtigster Punkt ist allerdings die Reduzierung der Migration aus EU-Ländern. Cameron will in den Neuverhandlungen des Vertrages verlangen, dass EU-Migranten in Großbritannien für mindestens vier Jahre keine Sozialleistungen beziehen können.

Am Abend des 9. November veröffentlichte die britische Regierung Zahlen, denen zufolge 43 Prozent aller EU-Migranten in den ersten Jahren ihres Aufenthalts in Großbritannien Sozialleistungen erhalten. Worauf diese Angabe beruht, ist unklar. Das Ministerium für Arbeit und Renten gibt an (ohne Quellen zu nennen), dass zwischen 37 und 43 Prozent der EU-Migranten eine Form von Sozialleistungen beziehen. Das sind etwa 40 000 Menschen. Wichtig ist, dass sich diese Zahl auf nichtbritische Familien bezieht. Damit sind alle Familien gemeint, in denen mindestens ein Erwachsener migrantisch ist. Wer es ist, der Sozialleistungen bezieht, die Migranten oder deren britische Partner, wird nicht spezifiziert.

Obwohl Camerons offizieller Brief den Beginn der Neuverhandlungen darstellt und die Rhetorik der Regierung seine Position untermauert, wird gleichzeitig deutlich, dass er einen EU-Ausstieg vermeiden will. In einer proeuropäischen Rede kündigte er an, zwar die Beziehung zwischen Großbritannien und der EU reformieren, aber die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens nicht aufgeben zu wollen. Als Hauptgründe nannte er die Gefahr für die nationale Sicherheit, sollte Großbritannien die EU verlassen, und den Verlust des Platzes auf der »Bühne der Welt«. Cameron würde unter Umständen sogar so weit gehen, der EU in dem ihm wichtigsten Punkt näherzukommen, bei den Sozialleistungen für EU-Ausländer.
EU-kritische Mitglieder der Conservative Party sind enttäuscht von ihrer eigenen Regierung und betonen, dass Cameron die »historische Chance« aufgebe, den EU-Vertrag neu zu verhandeln. Geradezu alarmiert sind sie von der Neigung Camerons, auf Einwände der EU zu hören. Zwei Organisationen streiten derzeit darum, die Kampagne für den EU-Ausstieg anzuführen. »Vote Leave«, eine Gruppe, die sich gegründet hat, um den Ausstieg voranzutreiben, ist von Camerons Kompromissbereitschaft schockiert. Dominic Cummings von »Vote Leave« bezeichnete die Wunschliste des Premierministers als »trivial«. Die Regierung veröffentlichte daraufhin ein Dokument, in dem sie diese Kritik Punkt für Punkt widerlegt. Die Konkurrenzorganisation zu »Vote Leave« ist »Leave.EU«, die ebenfalls den Ausstieg propagiert.
Befürworter der EU-Mitgliedschaft, darunter führende Wissenschaftler, nennen hingegen den Zugang zum gemeinsamen Markt als Argument für den Verbleib in der EU. Sie fürchten einen Ausstieg, da sich wesentliche Teile der Forschung in Großbritannien aus EU-Geldern finanzieren. Die Labour-Partei und ihr Vorsitzender Jeremy Corbyn halten sich in der Debatte bisher zurück.