Waleed al-Husseini im Gespräch über jihadistischen Hass und Religion

»Der radikale Islam soll verschwinden«

»Blasphémateur! Les prisons d’Allah« (Gotteslästerer! Die Gefängnisse Allahs) lautet der Titel des Buches, das Waleed al-Husseini kurz nach dem Massaker an der Redaktion von Charlie Hebdo im Januar veröffentlichte. Der aus dem Westjordanland stammende Blogger lebt seit 2011 als politischer Flüchtling in Paris. Als Betreiber des ersten arabischen Blogs über Atheismus und Religionskritik wurde er 2010 von der Palästinensischen Autonomiebehörde der Blasphemie beschuldigt und musste elf Monate im Gefängnis verbringen. Mit der Jungle World sprach er über die Reaktionen auf die Anschläge in Paris und die Zukunft der Laizität in Frankreich.

Wie haben Sie von den Anschlägen erfahren und was war Ihre erste Reaktion?
Ich war in der Stadt, erfahren habe ich von den Anschlägen allerdings erst durch Nachrichten von Freunden, die wissen wollten, wie es mir geht. Meine erste Reaktion habe ich sofort auf Facebook gepostet, wie es alle tun: Wir werden wieder angegriffen! Mehr ist mir in dem Moment nicht eingefallen. Dann kamen die Wut, die Sorge um meine Freunde, die Trauer um die vielen unschuldigen Menschen, die ihr Leben genossen, während die Feinde des Lebens auf sie warteten. Der Terror kam aber für mich nicht unerwartet, ich war nur überrascht, dass die Anschläge so gut organisiert waren.
Viele Terrorismusexperten bezeichneten die Anschläge in den vergangenen Tagen als nicht überraschend. Aber auch viele Menschen in Paris sagen, sie hätten so etwas erwartet. Hat man sich in der französischen Hauptstadt so bedroht gefühlt, hat man mit Anschlägen diesen Ausmaßes wirklich gerechnet?
In gewisser Weise schon. Seit dem Massaker an Charlie Hebdo hat man begriffen, wie verwundbar diese Stadt und dieser Staat sind. Man lebt seitdem gewissermaßen in Angst, aber das Leben muss weitergehen, das können die Pariserinnen und Pariser ganz gut. Allerdings ist die Reaktion diesmal eine ganz andere als im Januar. Denn diesmal sind die Opfer des Terrors Menschen, die ganz normale Dinge taten: essen, trinken, Musik hören, Fußball gucken – stellen Sie sich einmal vor, was passiert wäre, wenn der eine Jihadist sich im Stadion in die Luft gesprengt hätte! Ihr ganz normales Leben wurde diesen jungen Menschen durch puren Zufall zum Verhängnis. Das erzeugt Ängste, mit denen die französische Gesellschaft lange zu tun haben wird. Im Januar war die Stimmung bei aller Bestürzung und bei aller Wut eine andere, man hat die Opfer dieses unsäglichen Massakers teils selbst verantwortlich gemacht.
Weil viele damals Charlie Hebdo vorgeworfen haben, die Wut der Islamisten provoziert zu haben?
Exakt. Ihnen wurde, mehr oder weniger direkt, die Schuld an ihrem Tod gegeben, indem gesagt wurde, die Verletzung religiöser Gefühle könne eben leider auch zu so etwas führen.
Heute wird gesagt, schuld sei Frankreichs Syrien-Politik. In einer Stellungnahme auf Ihrem Blog vergleichen Sie auch den Kontext der Anschläge vom 13. November mit dem der Anschläge vom Januar. Sie schreiben, die Syrien-Politik der französischen Regierung in diesem Zusammenhang zu ignorieren, sei ein strategischer Fehler.
Ja, ich habe das geschrieben, um anzuprangern, dass diese Erklärung droht, die offizielle Entschuldigung für die Massaker zu werden. Es gibt viele Menschen, die glauben, der Westen habe sich durch seine Politik im Nahen Osten den Krieg ins Haus geholt. Viele brauchen ein rationales Erklärungsmuster. Wer in einer säkularen Gesellschaft sozialisiert worden ist – in der es jedem egal ist, ob und an wen oder was der andere glaubt –, kann einfach nicht fassen, dass man aus religiöser Überzeugung töten kann. Andere haben Angst, als Rassisten abgestempelt zu werden, wenn man nicht bei jedem Satz die angebliche Verantwortung des Westens erwähnt. Aber es geht hier nicht um »Rassen«, sondern um Ideologie und Religion. Um die Argumente derjenigen zu entkräften, die denken, wenn sich der Westen – in diesem Fall Frankreich – aus Syrien oder allgemein aus dem Nahen Osten zurückzieht, dann gibt es Frieden auf der Welt, muss man auf sie eingehen.
Und wie macht man das? Was antworten Sie zum Beispiel denjenigen, die angesichts der jüngsten französischen Luftangriffe auf Stellungen des »Islamischen Staats« (IS) in Syrien etwa von »Gewaltspirale« reden?
Ich bin kein Militärstratege, ich möchte nur, dass die Menschen Folgendes verstehen: Solange wir nicht ernsthaft über die Wurzel des jihadistischen Hasses diskutieren, wird es wieder Anschläge geben.
Sie haben auf Ihrem Blog auch darüber geschrieben, dass die westlichen Gesellschaften eine Verantwortung tragen. Sie schreiben, man habe »den Fuchs in den Hühnerstall gelassen«; damit die Massaker aufhören, müsse der »Schmusekurs« beendet werden. Hat Frankreich in Ihren Augen nach den Anschlägen vom Januar einen Schmusekurs gegenüber dem Islamismus gefahren?
Nach den Anschlägen vom Januar ist nichts passiert, ich bin sehr enttäuscht. Es gab keine Diskussionen, keine Veränderungen und keine Maßnahmen gegen die Feinde der Laizität. Es wurde nichts gegen Moscheen unternommen, die von Jihadisten besucht werden oder in denen Salafisten predigen. Und man hört verstärkt Forderungen nach dem Bau von Moscheen, nach mehr Halal-Essen in Schulen und auch das Kopftuchverbot gerät immer mehr in die Kritik. Nicht nur die Politik, auch die Gesellschaft hat sich an dieser Stelle verwundbar gezeigt.
In einem Interview, das Sie der Jungle World im April gegeben haben, sagten Sie: »Die radikalen islamischen Bewegungen nutzen die Schwachstellen der säkularen Demokratien mit dem Hauptziel, Macht für sich zu gewinnen.« Gehört zu diesen Schwachstellen die Angst vor dem Vorwurf der »Islamophobie«?
Unter anderem, aber nicht nur das. Man erlaubt den Bau von Moscheen ohne irgendwelche Kontrollen, man lässt zu, dass radikale Islamisten sich politisch organisieren und Einfluss auf das politische Geschehen haben. Das Label »Islamophobie« wurde erfunden, um den politischen Islam zu schützen, nicht Muslime. Es heißt nicht zufällig »Islamophobie«, sonst würde man so etwas wie »Muslimophobie« sagen. Der Begriff dient dazu, jegliche Kritik am Islam abzuwehren, aber er transportiert auch, ganz bewusst, den Rassismusvorwurf, mit dem in Frankreich und vielen anderen europäischen Ländern politischer Druck erzeugt werden kann, weil die Angst, in die Nähe der extremen Rechten gerückt zu werden, sehr groß ist.
Im selben Interview sagten Sie auch, die Islamisten wollten den Liberalismus der Atheisten bekämpfen: »Die französischen Bürgerinnen und Bürger müssen ihr kostbarstes Gut verteidigen, die Laizität. Sie garantiert die Freiheit.« Toleranz gehört aber auch zum Liberalismus. Sollte das jetzt aufhören?
Mörder zu tolerieren, gehört ganz sicher nicht zum Liberalismus, sondern ist einfach dumm und gefährlich. Wenn jemand mit einer Kalaschnikow vor mir steht, reiche ich ihm keine Blumen. Den radikalen Islamisten kann man die Laizität nicht erklären, denn sie haben ein großes Problem: Sie verstehen sich zunächst als Muslime und erst dann als Franzosen oder Europäer.
Wie reagieren Sie, wenn Sie den Satz hören, islamistischer Terror habe nichts mit dem Islam zu tun?
Ich frage: Was hast du als Erstes gedacht, als du von den Attentaten gehört hast? Dass es radikale Buddhisten gewesen sein könnten? Ich verweise auch darauf, dass das Verb »töten« im Koran mehr als hundertmal vorkommt, das Verb »lieben« weniger als zehnmal. Menschen, die »den Islam« verteidigen wollen, müssen einsehen, dass die Verteidigung einzig darin bestehen kann, den Islam zu reformieren. »Islam heißt Frieden« zu sagen, reicht einfach nicht.
In vielen europäischen Ländern ist die öffentliche Debatte nach den Anschlägen vom Wort »Krieg« geprägt. Man solle den Islamfaschismus bekämpfen und die Werte der freiheitlichen Gesellschaft verteidigen. Wie empfinden Sie die Stimmung in Frankreich diesbezüglich, steht die Freiheit im Mittelpunkt oder ist das Bedürfnis nach Sicherheit derzeit stärker?
Im Moment fällt es mir schwer zu prognostizieren, wie sich die gesellschaftliche Stimmung entwickeln wird. Ich habe den Eindruck, noch stehen die Französinnen und Franzosen zu sehr unter Schock. Auch wenn viele in Paris in den vergangenen Tagen als Trotzreaktion gegen die Einschüchterung demonstrativ ausgegangen sind und der Welt zeigen wollten, man werde weiter Spaß haben – etwa mit dem Hashtag #jesuisenterrasse. Gleichzeitig bestimmt der Ausnahmezustand den Alltag und er wird die Menschen in den nächsten Monaten mit der permanenten Angst konfrontieren.
Wird sich nach den Anschlägen die öffentliche Debatte über den Islam in Frankreich ändern? Welche Zukunft sehen Sie für die Laizität?
Ich hoffe, dass eine Debatte überhaupt stattfinden wird! Und ich hoffe, dass thematisiert wird, dass ein Teil der islamischen Welt ein Problem hat mit den Werten der liberalen Gesellschaft in den westlichen Ländern. Man sollte endlich im 21. Jahrhundert ankommen und nicht im 7. Jahrhundert stehenbleiben, und man sollte diskutieren können, ohne Angst zu haben, jemanden zu beleidigen. Auch diese Angst muss thematisiert werden, nicht nur die vor Attentaten. Der radikale Islam soll verschwinden. Moscheen, in denen radikale Imame sprechen, müssen geschlossen werden. Wir sollten auch darüber diskutieren, was »radikal« eigentlich bedeutet, denn in der öffentlichen Debatte wird der Begriff häufig als Synonym für »jihadistisch« verwendet, aber ich denke, dass in diesem Zusammenhang radikal auch ist, wer die Werte der Freiheit und der Gleichheit nicht anerkennt.
Wie wird sich das öffentliche Leben in Paris verändern, wird es wieder möglich sein, ein normales Leben zu führen?
Ja, das wird wieder möglich sein, weil die Pariserinnen und Pariser Kämpfer sind!