Das Mitgefühl mit den Opfern von Paris

Die große Versöhnung

Die Reaktionen auf den Terror von Paris weisen die bekannten Muster auf. Eigene ­Gewissheiten und Befindlichkeiten sind wichtiger als das Mitgefühl mit den Opfern.

Terroranschläge sind etwas in jeder Hinsicht Erschütterndes, und das längst nicht nur für die unmittelbar davon Betroffenen. Was sich am Abend des 13. November in Paris zutrug, dürfte jedenfalls nur wenige kalt gelassen haben. Unerschütterlich scheinen dennoch die Gewissheiten, die in der Verarbeitung solcher Geschehnisse geäußert und als Einschätzungen präsentiert werden. Das ist zunächst einmal verständlich, denn wo das Innehalten, Nachdenken und Zweifeln keine Optionen sind, weil der Drang, etwas derart Ungeheuerliches möglichst schnell zu erklären, einzuordnen und emotional zu bewältigen, zu groß ist, hält man sich bevorzugt an vertraute Erklärungs-, Deutungs- und Reaktionsmuster. Diese wiederum verraten viel über Haltungen, Befindlichkeiten und Prioritäten – zumal angesichts der Möglichkeit, sich in den sozialen Netzwerken mitzuteilen, wo die Verlockung, rasant zu reagieren und dafür mit »Likes« überhäuft zu werden, häufig erheblich größer ist als die Einsicht in die Notwendigkeit von Reflexion.
Das gilt nicht zuletzt für diejenigen, die in so ziemlich jedem zugewanderten Muslim aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak einen potentiellen Attentäter sehen und unter dem Eindruck der Attacken in der französischen Hauptstadt offenbar weniger Abscheu und Trauer empfinden als vielmehr Befriedigung angesichts der vermeintlichen Bestätigung, die sie durch die Taten erfahren. Der Welt-Kolumnist Matthias Matussek etwa hat sich spätestens durch den »Smiley« hinter seinem kurz nach den Anschlägen veröffentlichten Eintrag auf Facebook verraten, in dem er schrieb: »Ich schätze mal, der Terror von Paris wird auch unsere Debatten über offene Grenzen und eine Viertelmillion unregistrierter islamischer Männer im Lande in eine ganz neue frische Richtung bewegen.« Sein Chefredakteur erklärte ihn daraufhin für »durchgeknallt« und setzte ihn vor die Tür. Matussek ist nicht der Einzige, der anlässlich des Terrors vor allem die Chance gekommen sieht, mit der Flüchtlingspolitik kurzen Prozess zu machen.
Auf der anderen Seite sind da diejenigen, deren antifaschistische Alarmbereitschaft nicht etwa dem islamfaschistischen Terrorakt mit 132 Toten gilt, sondern ausschließlich Pegida, AfD und Konsorten, weil befürchtet wird, dass diese Gruppierungen jetzt Zulauf bekommen könnten. Man fürchtet deren Treiben also mehr und hält sie für gefährlicher als den Islamismus, obwohl der nicht zum ersten Mal auch in einer westlichen Metropole gezeigt hat, dass sein Programm aus nichts als Tod und Vernichtung besteht. Eine Reaktion, die an jene nach den Flugzeugattentaten vom 11. September 2001 in den USA erinnert, als etliche Linke nicht die Trauer um die Ermordeten und das Entsetzen über das islamistische Massaker beschäftigte, sondern vielmehr die Sorge, dass »die Amis« nun den dritten Weltkrieg anzetteln könnten.
Damit soll ganz gewiss nicht gesagt sein, dass Hunderte von Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte alleine in diesem Jahr und das Treiben des Pöbels in Heidenau, Freital und anderen sehr deutschen Dörfern zu vernachläs­sigen wären. Nur ist es bezeichnend, dass die linken Reflexe lediglich in solchen Fällen funktionieren. Dass die Islamisten auch die nach Deutschland geflüchteten Muslime wahlweise anzuwerben versuchen oder als Apostaten behandeln und bedrohen, ist so wenig ein Thema wie die Tatsache, dass der mit Abstand verheerendste Anschlag in Paris, nämlich der auf die Konzerthalle »Bataclan«, eine offenkundig antisemitische Motivation hatte: Der Club wurde bis vor kurzem von jüdischen Eigentümern geführt und organisierte regelmäßig proisraelische Veranstaltungen. Seit Jahren befand er sich im Visier radikal antizionistischer Gruppen, 2011 gab es eine Anschlagsdrohung durch eine salafistische Terrorgruppe. Die Band »Eagles of Death Metal«, die zum Zeitpunkt des Anschlags gerade ein Konzert im Bataclan gab, hatte sich im Sommer während eines Auftritts in Tel Aviv deutlich gegen die antiisraelische Boykottbewegung BDS ausgesprochen.
Auch darüber hinaus weisen viele Reaktionen in linken und liberalen Milieus die altbekannten Muster auf. In der Süddeutschen Zeitung etwa hält Heribert Prantl die Terroristen des IS lediglich für »wirre Irre« und glaubt, eine »noch größere Gefahr läge darin, dass die Rechtsstaaten in ihrer Reaktion auf den Terror exaltieren«. Auf Spiegel Online gibt der notorische Jakob Augstein die Margot Käßmann und schreibt, »das Problem mit dem ›Krieg gegen den Terror‹« sei, dass ihn bereits verloren habe, wer ihn führe, schließlich werde man so zwangsläufig seinem Feind ähnlich. »Die einzige Waffe gegen den Hass ist die Versöhnung«, schlussfolgert er und hofft auf »eine neue Ära«, in der der Westen der islamischen Welt beweist, »dass die wahre Stärke in Vergebung und Friedfertigkeit liegt«. Das wird die Islamisten gewiss das Fürchten lehren und in die Knie zwingen. Ansonsten wird wieder oft und gerne das Mantra wiederholt, die Attentate hätten mit dem Islam rein gar nichts zu tun, ja, sie seien sogar gegen ihn gerichtet.
Es gibt also wenig Überraschendes in der deutschen Debatte über den Terror von Paris. Wie schon nach den Anschlägen auf die Redak­tion von Charlie Hebdo und einen koscheren Supermarkt im Januar folgt auf die Verurteilung der Taten oft ein großes »Aber«, das die eigentlichen Prioritäten anzeigt. Die eigenen Befindlichkeiten wiegen vielfach erheblich schwerer als das Mitgefühl mit den Opfern. Doch das ist man in diesem Land inzwischen längst gewohnt.