Der NSU-Untersuchungsausschuss in Hessen

Gemüse im Ausschuss

Im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss sagten fünf Mitarbeiter des Verfassungsschutzes aus. Trotz der Erinnerungslücken kamen neue Details ans Licht.

Im hessischen Untersuchungsausschuss zum »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) war der Verfassungsschutz kurz vor Weihnachten erneut Gegenstand der Befragung. Der Ausschuss untersucht die Umstände der Ermordung von Halit Yozgat, der am 6. April 2006 in seinem Internetcafé in Kassel erschossen wurde. Im Gegensatz zu den vorherigen Morden gab es bei dieser Tat Zeugen. Unter ihnen war mit Andreas Temme ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes, der Benjamin Gärtner, Deckname »Gemüse«, einen V-Mann in der rechtsextremen Szene Kassels, führte. Trotz eines Zeugenaufrufs meldete sich Temme 2006 nicht bei der Polizei. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass Temme zur Tatzeit im Café anwesend war, wurde gegen ihn zeitweise wegen Mordes an Yozgat ermittelt. Sowohl im NSU-Prozess als auch im Bundestagsuntersuchungsausschuss stritt Temme ab, den Schuss auf Yozgat bemerkt zu haben.

Frank-Ulrich Fehling, der damalige Leiter der Verfassungsschutzstelle in Kassel, bezichtigte Temme im Ausschuss nun der Lüge. Temme habe nur wenige Tage nach dem Mord abgestritten, das Café zu kennen, obschon er dort regelmäßig gewesen sei, so Fehling. Bislang war nicht bekannt, dass sich Temme und Fehling in der Woche nach dem Mord persönlich unterhalten hatten. Auch Lutz Irrgang, der damalige Präsident des hessischen Verfassungsschutzes, schob alle Schuld auf Temme. Es sei peinlich für die Behörde gewesen, wie der Mitarbeiter sich verhalten habe. Über die Folgen für das Opfer und die Angehörigen sagten beide Beamten nichts.
Im Sommer 2006 versuchten Ermittler, die V-Leute von Temme zu vernehmen. Der Verfassungsschutz und das Innenministerium verhinderten damals eine Befragung. Irrgang bekräftigte im Ausschuss seine Ansicht, dass Quellen selten seien und geschützt werden müssten. Entgegen den bisherigen Erkenntnissen gab er jedoch zu Protokoll, einer Befragung unter »bestimmten Bedingungen« zugestimmt zu haben. Der damalige Innenminister Volker Bouffier (CDU) habe dies aber verhindert. Bei Hermann Schaus, Obmann im Ausschuss für die Linksfraktion, blieb nach Irrgangs Aussage der »Eindruck eines Beamten, der seiner Verantwortung im Jahr 2006 durch nichts gerecht geworden sei und der sich im Nachhinein reinwaschen wolle«.
Mit Spannung wurde die Aussage von Iris Pilling erwartet, der damaligen Referatsleiterin für Beschaffung. Bislang hatte sie weder im Prozess noch in einem Ausschuss ausgesagt. Sie hatte Temme noch während der laufenden Ermittlungen 2006 als ihren »besten Mann« gelobt. Zudem trafen die beiden sich damals auf einer Raststätte, um Temme zufolge »Menschliches« zu besprechen. Die Telefonate zwischen Temme und Pilling wurden 2006 von der Polizei abgehört, im Ausschuss wurden sie erneut abgespielt. Pilling gab an, keine Erinnerung an sie zu haben. Dennoch bestätigte sie Temmes Version, sie hätten, wenn überhaupt, nur über Privates gesprochen. Dass sich Temme dienstlich in Yozgats Café aufgehalten habe, schloss Pilling kategorisch aus. Ob sich der Verfassungsschützer möglicherweise ohne Absprache mit seinen Vorgesetzten, aber aus dienstlichem Interesse dorthin begeben hatte, wurde im Ausschuss nicht erörtert.
Ein weiterer Untersuchungskomplex im Ausschuss ist die rechtsextreme Szene in Hessen. Nicht wenige Verfassungsschutzmitarbeiter offenbarten hierbei kuriose Einschätzungen. Fehling sprach von der NPD stets als »konservativem Teil« der Szene, während Skinheads »körperliche Auseinandersetzungen« ohne politisches Motiv suchten. Eine ebenfalls geladene »Auswerterin« für den Rechtsextremismus kannte etliche hessische Szenegrößen nicht mit Namen.

In ihrer Befragung offenbarte Pilling ein neues Detail. Bislang war lediglich bekannt, dass Temmes V-Mann Gärtner auf die eigentlich unbedeutende rechtsextreme »Deutsche Partei« (DP) angesetzt war. Sein Stiefbruder war Anführer der Kameradschaft Kassel. Zudem besuchte Gärtner Demonstrationen des Thüringer Heimatschutzes. Pilling gab nun an, Gärtner sei erst später auf die DP »umgesteuert« worden, sein vorheriges Beobachtungsziel verschwieg sie. Vor diesem Hintergrund ist eine Einlassung von Fehling bemerkenswert: Obwohl er neben Temme ebenfalls über Jahre Gärtners V-Mann-Führer war, gab er an, die DP nicht zu kennen.
Neben einigen interessanten Details offenbarten die Sitzungen des Ausschusses auch seine größte Probleme. Der hessische Untersuchungsausschuss wurde nicht im Konsens aller Parteien eingesetzt. CDU, Grüne und FDP enthielten sich 2014 dem Einsetzungsantrag der Opposition. Parteitaktische Spielereien dominieren seitdem das Geschehen. Während die Opposition versucht, jeden Fehler der Behörden dem derzeitigen Ministerpräsidenten Bouffier anzulasten, veröffentlicht die CDU-Fraktion nach jeder Sitzung Pressemitteilungen, in denen die strukturellen Probleme der Behörden ausgeblendet werden. Der CDU-Obmann Holger Bellino attestiert dem Verfassungsschutz ein »kooperatives Verhalten« im Kasseler Mordfall. Die Grünen beginnen erst seit kurzem, den Zeugen annähernd sachkundige Fragen zu stellen – nachdem sie über Monate öffentlich für ihr Verhalten im Ausschuss kritisiert worden sind.
Die oftmals langwierigen und unstrukturierten Befragungen der Zeugen sind Ausdruck der widerstreitenden Interessen im Ausschuss. Alle 15 Minuten wechselt das Fragerecht zwischen den Fraktionen. Während sich bei einer vergleichbaren Regelung im Bundestag die Obleute der Fraktionen parteiübergreifend die Bälle zuspielen, Fragen­komplexe vertiefen und Zeugen damit in die Enge treiben, versuchen sich die hessischen Obleute mit eigenen Fragen zu profilieren. Eine vertiefte Auseinandersetzung im Sinne der Sachaufklärung ist so kaum möglich.

Besonders problematisch ist die Leitung des Ausschussvorsitzenden Hartmut Honka (CDU). Er scheint sichtlich darum bemüht, dass sich kein Behördenmitarbeiter in Widersprüche verstrickt. Seine Fragen sind oft suggestiv und liefern den Zeugen bereits mögliche Ausreden. Honkas Fragestil könnte mit seiner Bewertung der Kasseler Tat zusammenhängen. Während der Befragung der Zeugin Pilling sagte er über Temme, dieser habe sich ja nur »zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort« befunden.
Die Klärung dieses Sachverhalts wäre der zentrale Auftrag des Ausschusses. Zu Honkas voreiliger Festlegung passt, dass die schwarz-grüne Landesregierung Ende November 2015 die personelle Aufstockung des Verfassungsschutzes um 55 weitere Stellen beschlossen hat. Eine grundsätzliche Kritik an den Behörden im NSU-Untersuchungsausschuss ist da unwahrscheinlich.