Spanien steht womöglich vor Neuwahlen

Rückrunde in Spanien

Nach den Wahlen befindet sich Spanien in einer politischen Pattsituation. Neuwahlen werden immer wahrscheinlicher.

»Radikaler Wandel«, »Revolution« – in der Berichterstattung über die Wahlen in Spanien Ende Dezember, bei denen die regierende Volkspartei (PP) die absolute Mehrheit verlor, wurde mit großen Worten nicht gegeizt. Wie groß der Wandel sein wird, muss sich erst noch zeigen. Aber tatsächlich war das Parlament noch nie so vielfältig und zugleich so uneinig. Die konstituierende Sitzung des neuen Abgeordnetenhauses vorige Woche gab bereits einen kleinen Vorgeschmack darauf, dass politische Debatten dort zukünftig ungemütlich ablaufen werden. Die 69 Abgeordneten der Protestpartei Podemos, die knapp 21 Prozent der Stimmen erlangt hatte, erweiterten den Schwur, die Verfassung zu achten, um den Zusatz »um sie zu ändern«. Der Vorsitzende Pablo Iglesias fügte noch mit erhobener Faust hinzu: »Nie wieder ohne die Leute, nie wieder ohne das Volk!«
Die chaotische Sitzung verdeutlicht zugleich die politische Pattsituation. Keine Partei, noch nicht einmal die wirtschaftsliberale und politisch dem PP nahestehende Bürgerpartei Ciudadanos, die bei den Wahlen 14 Prozent bekommen hatte, will mit dem noch amtierenden Ministerpräsidenten Mariano Rajoy eine Regierung bilden. So verläuft dessen Suche nach Koalitionspartnern bisher erfolglos. Statt die Niederlage einzugestehen, sieht sich der Vorsitzende der noch immer stärksten Partei im spanischen Parlament als klarer Sieger und ruft die anderen Partei zu Verantwortung auf – was nichts anderes bedeutet, als ihm im Namen von »Stabilität« und »Sicherheit« zu einer weiteren Amtszeit zu verhelfen. Die sozialdemokratische Partei (PSOE), die ihr schlechtestes Wahlergebnis in der postfranquistischen Ära verkraften muss, will sich hingegen am »portugiesischen Modell« orientieren. Dort war im November die konservative Regierung durch eine von linken Kräften getragene Minderheitenregierung ersetzt worden. Nach einem Besuch im Nachbarland begann der Vorsitzende des PSOE, Pedro Sánchez, für diese Strategie zu werben und brachte eine »große Koalition progressiver Kräfte« in die Debatte ein. Jedoch scheiden die kleinen progressiven, aber zugleich na­tionalistischen Parteien der spanischen Regionen als Partner aus, da die Sozialdemokraten an der Einheit Spaniens festhalten. So soll nach dem Wunsch von Sánchez die Koalition aus PSOE, Podemos und Ciudadanos bestehen. Beide Parteien haben daran bisher jedoch wenig Interesse gezeigt.

Wenn die anderen Parteien an ihrer Ablehnung einer Koalition mit Rajoy festhalten, kommt an Podemos niemand vorbei. Deren Coup, als erste Partei noch in der konstituierenden Sitzung einen Gesetzentwurf einzubringen, der ein »soziales Notfallprogramm« beinhaltet, Zwangsräumungen aussetzt sowie die Strom- und Wärmeversorgung auch bei zahlungsunfähigen Haushalten garantiert, wird ihre derzeitige Popularität gefestigt haben. Der Erfolg von Podemos zeigt aber nicht nur die anhaltende »Empörung« in großen Teilen der Gesellschaft, sondern auch die derzeitige Schwäche der Linken in Spanien. Die Traditionspartei Vereinigte Linke (IU), ein Bündnis vorrangig kommunistischer Parteien, hat von bisher elf Parlamentssitzen neun verloren. Zu dieser Niederlage hat auch Podemos beigetragen. Deren Gründungsriege kommt aus dem engsten Umfeld der IU, vor den Wahlen lehnte Podemos aber alle Kooperationsangebote ab, weil ein Bündnis mit Kommunisten nicht zur Marketingstra­tegie der Partei passt.
Allem Pathos zum Trotz gab es keinen Linksrutsch in Spanien. Jedoch standen die Chancen für den geforderten »demokratischen Bruch« mit dem »Regime von ’78« so gut wie nie zuvor. Dem Zweiparteiensystem, einem Grundpfeiler der seit der Transición 1978 bestehenden Ordnung, in dem sich PSOE und PP an der Macht abwechselten, wurde durch den Einzug von Podemos und Ciudadanos ins Parlament vorerst ein Ende gesetzt. »Die große politische Frage für 2016 wird nicht die parlamentarische Unordnung, die real existierende Unregierbarkeit sein, sondern welches Projekt sich durchsetzen wird, um aus ihr herauszukommen«, schrieben Brais Fernández und Jesús Rodríguez in der linken Zeitung Periódico Diagonal. Einerseits seien die Eliten unfähig, ihre Herrschaft weiter auszuüben, andererseits könne die Arbeiterklasse diese Chance nicht nutzen. Die Lösung sei, die sozialen Massenproteste von 2011 und das Aufkommen von Podemos 2014, also den Kampf auf den Straßen und in den Institutionen, zusammenzuführen, um »all die Schläge« zurückzugeben, die »die von oben uns verpasst haben«. Nun ist Podemos, wo auch die Verfasser des Textes engagiert sind, an dieser Situation nicht ganz unschuldig. Die Partei hat der Unzufriedenheit keine politische Richtung gegeben. Der anfängliche Bewegungscharakter wurde institutionalisiert, kritische linke und radikale Stimmen wurden immer mehr ausgegrenzt, stattdessen setzte man auf linkspopulistisches, unpolitisches Protestgebaren. Vorerst mit Erfolg. Aber wenn es nicht gelingt, die Unzufriedenheit in eine konkrete Richtung zu lenken, könnte die Partei so schnell wieder verschwinden, wie sie aufgetaucht ist.

Während in Gesamtspanien weiterhin alles offen ist und es mit großen Schritten Richtung Neuwahlen geht, wurden diese in Katalonien in letzter Minute verhindert. Anfang Januar einigte sich die linksnationalistische Candidatura d’Unitat Popular (CUP) mit der bürgerlich-nationalistischen Einheitsliste (Junts pel Sí) auf einen neuen Ministerpräsidenten, der die Region nun bis 2017 in die Unabhängigkeit führen soll. Die CUP hatte sich zuvor geweigert, dem bisherigen konservativen Regierungschef Artur Mas ihre Stimmen zu geben, da er ein Vertreter neoliberaler und unsozialer Krisen- und Austeritätspolitik sei. Daran hielt sie auch fest, als die bürgerlich-konservativen Kreise als Zugeständnis an die CUP eine Resolu­tion unterstützten, in der als gemeinsames Ziel eine katalanische »Republik« festgelegt wurde. Mit großem Aufwand wurde die Basis befragt, wie die CUP weiter vorgehen solle: die Einigung weiter blockieren, was zu Neuwahlen und möglicherweise einem Ende der nationalistischen Mehrheit im Parlament geführt hätte, oder für die katalanische Nation einen Pakt mit dem politischen Gegner eingehen. Bei der Basisversammlung gab es 1 515 Stimmen für solch einen Pakt – und 1 515 dagegen. Dann wurde Carles Puigdemont als neuer Regionalpräsident eingesetzt, der frühere Bürgermeister von Girona. Nicht ganz zu Unrecht wird der CUP nun Heuchelei vorgeworfen, denn Puigdemont und Mas sind politisch auf einer Linie.
Kritik kommt auch von der spanischen Linken, da der sich zuspitzende Konflikt mit Katalonien die politische Selbstfindung des spanischen Parlaments enorm erschwert und eine parteiübergreifende, spanisch-nationalistische Allianz entstehen könnte. Die Wahl des ehemaligen baskischen Regierungschefs Patxi Lopéz (PSOE) zum neuen Präsidenten des Unterhauses mit den Stimmen der Sozialdemokraten und der Ciudadanos, ermöglicht durch die Enthaltung der PP-Fraktion, wurde mancherorts bereits als erster Schritt in diese Richtung gewertet. Die Angst vor einem Zerfall Spaniens könnte die Wähler bei Neuwahlen gar zurück in die Arme des PP treiben, der sich – obwohl hauptverantwortlich für den sozialen und politischen Zerfall des Landes – auf diese Weise als Garant von Stabilität präsentieren könnte. Auf jeden Fall hat die CUP die wirklich historische Chance bereits verpasst, ihre vorübergehende politische Macht in der produktivsten Region des Landes für einen gesamt­spanischen progressiven Wandel zu nutzen.