Hilfe im griechischen Chaos. Mehr als 120 NGOs sind auf Lesbos tätig, um ankommende Flüchtlinge zu versorgen

Helfen in der Durchgangsstation

Auf der griechischen Insel Lesbos kommen täglich Flüchtlinge in Booten vom türkischen Festland an, um weiter in andere europäische Länder zu reisen. Verschiedene große und kleine Hilfsorganisationen versuchen, die Ankommenden mit dem Nötigsten zu versorgen.

Keine 25 Kilometer ist die türkische Küste entfernt, deutlich sieht man abends die Lichter der Fischerdörfer auf der anderen Seite. Eine Fährfahrt von der türkischen Kleinstadt Ayvalık nach Mytilini auf der griechischen Insel Lesbos kostet in der Nebensaison zehn Euro und dauert eineinhalb Stunden. Nur können Menschen, die aus Syrien, dem Irak und anderen Ländern des Nahen Ostens oder Nordafrikas fliehen, diese Fähren nicht nutzen, da ihnen das nö­tige Visum für die EU fehlt. Viele setzen daher in Schlauchbooten über und riskieren bei der Fahrt ihr Leben. Alleine in den ersten sechs Wochen dieses Jahres sollen in der Ägäis 150 Flüchtlinge ertrunken sein.
Bis vor wenigen Wochen legten die Flüchtlingsboote morgens auf der türkischen Seite ab und erreichten noch bei Tageslicht die Strände von Lesbos. Seit türkische Grenzbeamte und Polizisten die Kontrollen verschärft haben, kommen sie meist mitten in der Nacht an. Schließlich zahlt die Europäische Union der Türkei inzwischen Milliarden Euro, um den Flüchtlingsstrom nach Europa einzudämmen.
Etwa vier bis fünf Stunden dauert die Überfahrt bei ruhigem Wetter – wenn nichts schiefgeht. Dieser Tage kommen die meisten der Boote am Südstrand der Insel an, in der Nähe des kleinen Flughafens. Hier warten freiwillige Helfer ebenso wie professionelle Bergungsteams auf die Menschen. Bis zu 50 Personen werden in die üblichen Schlauchboote gepfercht, die Passagiere müssen sie selbst steuern und auch den kleinen Außenbordmotor bedienen. »Wenn der ausgeht«, erklärt Salam Kemal Aldeen von der dänischen Organisation Team Humanity, »wissen sie oft nicht, wie sie ihn wieder zum Laufen bringen. Dann treiben sie ab und drohen zu kentern. Und die wenigsten können schwimmen, viele sehen zum ersten Mal in ihrem Leben das Meer. Oft sind auch alte Leute oder Behinderte an Bord, von den vielen Kindern ganz zu schweigen.« Aldeen ist seit September auf Lesbos, mit seinen Kollegen fährt er jeden Abend an die Küste. Früher, in seinem alten Leben, wie er es nennt, leitete er in Dänemark ein kleines Unternehmen. Sein Vater stammt aus dem Südirak, seine Mutter ist Russin, 1991 flohen sie aus Moldawien nach Dänemark.
Im vergangenen Herbst, als die Massenflucht via Griechenland nach Deutschland ihren ersten Höhepunkt erreichte, ließ er alles stehen und liegen und kam zum ersten Mal nach Lesbos. »Damals gab es hier keine Freiwilligen oder Organisationen und täglich kamen Tausende von Flüchtlingen«, erinnert er sich. »Es war das totale Chaos.« Aldeen kehrte nach Dänemark zurück, mobilisierte Freunde und Verwandte, gründete seine eigene Organisation und ist seitdem hier. Bislang habe er über 10 000 Menschen geholfen, erzählt er und zeigt auf seinem Mobiltelefon Kurzvideos von gekenterten Booten und verzweifelt um Hilfe rufenden Flüchtlingen, die er im Winter bei Minustemperaturen und aus stürmischer See retten konnte.
Auch in dieser Nacht sollen, trotz hoher Wellen und schneidend kaltem Wind, zwei Boote unterwegs sein. Wissen dürfen die Helfer auf der griechischen Seite das eigentlich nicht; jeder telefonische Kontakt mit den Flücht­lingen oder Informanten auf der türkischen Seite könnte von den Behörden als aktive Fluchthilfe gewertet und bestraft werden. Doch einige Telefonnummern, vor allem der arabischsprachigen Helfer auf Lesbos, werden inzwischen in den Flüchtlingslagern in der Türkei weitergegeben. Und nicht wenige der Freiwilligen riskieren lieber eine Anzeige, als solche Telefonanrufe nicht anzunehmen.
Auf dem Wasser patrouillieren Boote der griechischen Küstenwache und neuerdings auch der europäischen Grenzschutzorganisation Frontex. Seit kurzem sind zusätzlich Marineeinheiten der Nato unterwegs, die, so sieht es das jüngste Abkommen zwischen der EU und der Türkei vor, bald Flüchtlinge an Bord nehmen und dann in die Türkei zurückbringen sollen.
Eines der zwei Schlauchboote hat inzwischen offenbar griechisches Hoheitsgewässer erreicht. Dank Google Maps können die Flüchtlinge ihre Position in der Regel selbst orten. Der Motor sei ins Stottern geraten, erzählt ein Helfer, der in telefonischem Kontakt mit einem der Passagiere steht und rät ihnen, die internationale Notrufnummer für Seerettung, 112, zu wählen. Glücklicherweise decken türkische und griechische Mobilfunknetze die ganze Passage ab. Aber die Bootsinsassen müssen sich sicher in griechischen Hoheitsgewässern befinden, wenn sie einen Notruf absetzen – sonst kommt die türkische Küstenwache, sie werden zurück an die kleinasiatische Küste gebracht und haben ihr Geld umsonst ausgegeben.
Eine Überfahrt kostet immerhin zwischen 600 und 2 500 US-Dollar pro Person, abhängig von der Qualität des Bootes und den Wetterbedingungen. »Das ist inzwischen ein Riesengeschäft, bei dem Hunderte Millionen Euro verdient werden«, meint Aldeen. Am billigsten ist die Passage auf den großen, besonders unsicheren Schlauchbooten, die bis zu 70 Personen fassen. »Die Syrer verfügen noch am ehesten über das Geld für die kleineren, besseren Boote«, sagt Amal Mahmut, eine Teamkollegin von Aldeen, die, wenn sie nicht gerade am Strand von Lesbos auf Flüchtlingsboote wartet, in Göttingen Sozialwissenschaft studiert. »Am wenigstens Geld haben Afghanen und Yeziden aus dem Irak«, erzählt sie. Mahmut ist selbst Yezidin, wuchs aber in Deutschland auf und war, wie ihr Kollege Aldeen, noch nie im Irak. Sie spricht den Dialekt Kurmanji der syrischen Kurden, den auch Yeziden gebrauchen. »Es ist sehr wichtig, dass hier Leute vor Ort sind, die die Flüchtlinge auf Arabisch oder Kurdisch empfangen und sich mit ihnen in ihrer Sprache verständigen können«, sagt sie.
Die einzigen Hilfsorganisationen aus dem Nahen Osten an Ort und Stelle sind die aus Israel, denn israelische Staatsbürger können ohne Visum in die EU einreisen. Für die Organisation Israid arbeiten neben jüdischen Freiwilligen mehrere Araber, etwa Malik Abu Gharara aus Rahat, einer Beduinenstadt im Süden Israels, der für die medizinische Erstversorgung von Flüchtlingen zuständig ist. Des weiteren gibt es Humanity Crew, eine rein arabische Organisation mit Sitz in Haifa, die vor allem psychosoziale Hilfe leistet. Ihre Mitglieder tragen leuchtend gelbe Warnwesten, die schon von weitem am Strand erkennbar sind, und Palästinensertücher.
Schließlich kommt die Meldung: Das Boot mit Motorschaden hat die griechische Küstenwache informiert. Es folgt eine halbe Stunde gespannten Wartens, bis die nächste Nachricht eintrifft. Es ist entdeckt worden, die Insassen sind also sicher und das Boot wird in den Hafen von Mytilini geschleppt. Jede Nacht geht es so; ist das Wetter gut und kein hoher Wellengang, erreichen selbst im Winter täglich bis zu 30 Boote die Küste. Am folgenden Abend, kurz vor Mitternacht, sichten Aldeen und seine Kollegin Mahmut keine 100 Meter vom Flughafen entfernt ein kleines Positionslicht und hören die lauten Rufe der Flüchtlinge an Bord. Dann bricht am Strand Hektik aus: Die Freiwilligen der unzähligen Organisationen, die sich an einem Lagerfeuer am Strand wärmen, stürzen zu ihren Autos und fahren im Konvoi zu der Stelle, an der die Flüchtlinge anlanden werden. Batteriebetriebene Flutlichter werden aufgebaut, Decken, Wasser, Schutzumhänge und Kindernahrung geholt. Rettungsschwimmer der spanischen Organisa­tion Proem-Aid schwimmen dem Boot entgegen und begleiten es an den Strand.
Dann kommen die ersten Bootsinsassen an Land, inzwischen sind es meist Familien, aber auch viele alleinreisende Frauen mit ihren Kindern. Allen ist die unglaubliche Erleichterung anzumerken, es lebend geschafft zu haben. Kaum auf festem Boden, noch in durchnässten Schuhen und Hosen, rufen viele ihre Freunde und Verwandte auf der anderen Seite an, um ihnen mitzuteilen, dass sie sicher gelandet sind. Abu Gharara von Israid und andere Ärzte leisten derweil erste Hilfe. Eine hochschwangere Frau ist ohnmächtig geworden, ein Kleinkind leidet an Unterkühlung, ein älterer Mann kämpft mit Atembeschwerden.
Nach einer Viertelstunde ist alles vorbei. Ein Bus des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) holt die Neuankömmlinge ab, bringt sie in das Transitlager Moria, einen der sogenannten Hotspots für Flüchtlinge in Griechenland, etwa 20 Kilometer nördlich der Inselhauptstadt. Dort werden sie registriert und vorläufig untergebracht. Am Strand kehrt wieder Ruhe ein; Schwimm­westen werden eingesammelt, das Boot an Land gezogen, Müll entsorgt, dann verteilen die Helfer sich wieder und warten auf ihren nächsten Einsatz.
Über 120 Organisationen arbeiten auf Lesbos, von großen Hilfswerken wie Ärzte ohne Grenzen und Save the Children bis zu vielen kleinen Initiativen, die sich im vergangenen Herbst gegründet haben, um in Griechenland zu helfen. Überall in Mytilini sieht man die Fahrzeuge der Organisationen mit den aus Krisengebieten bekannten Aufklebern. Hotels und Pensionen sind, unüblich für diese Jahreszeit, ausgebucht. Auch Reisebüros machen gute Geschäfte. Wo sonst Rucksacktouristen ihre Fährtickets kaufen, ist nun alles auf Arabisch beschriftet: Die Weiterfahrt via Athen an die mazedonische Grenze kostet um die 90 Euro.
Dorthin wollen alle Flüchtlinge. »Diese Leute haben sich in den Kopf gesetzt, nach Deutschland oder Schweden zu gelangen. Bis sie dort angelangt sind, sind sie unterwegs und kaum ansprechbar. Alles dreht sich hier nur ums Weg- und Weiterkommen«, erzählt Minem Maarouf, der die Aktivitäten von Humanity Crew koordiniert. Kaum jemand bleibt länger als zwei Tage in einem der Lager auf der Insel, wo sich die Flüchtlinge offiziell registrieren lassen müssen und von griechischen Beamten die notwendigen Papiere zur Weiterreise ausgestellt bekommen. Mazedonien lässt neuerdings jedoch nur noch Syrer und Iraker über die Grenze, selbst Afghanen werden inzwischen abgewiesen. Wer nicht über die Grenze kommt, kann versuchen, in Griechenland einen Asylantrag zu stellen.
Jeden Abend um 20 Uhr legt eine Fähre nach Piräus ab. Am Hafen sammeln sich ab dem Nachmittag all jene, die wenige Tage zuvor in einem Schlauchboot angekommen sind. Hilfsorganisationen verteilen Kleidung, Schlafsäcke, belegte Brote und Tee. Neben Yeziden aus dem Sinjar-Gebirge warten arabische Familien aus dem Zentralirak und vor allem unzählige Syrer, bis ihre Papiere überprüft und sie auf die Fähre gelassen werden. Sie alle besitzen nur noch, was sie am Körper tragen, denn Gepäck passt keines auf die Schlauchboote, mit denen sie ankamen. Besonders Afghanen und yezidische Familien können sich die Weiterfahrt oft nicht mehr leisten. »Die stecken dann hier fest, bis irgendjemand für sie das Geld auftreibt«, sagt Amal Mahmut. Eine andere Organisation, für die sie ebenfalls ehrenamtlich tätig ist, der Verein »Eziden Weltweit«, versucht daher, in Deutschland Geld für die Weiterreise zu sammeln. Mahmut bleibt mit vielen, denen sie auf Lesbos geholfen hat, in Kontakt und unterstützt sie, wenn sie am Ziel ihrer Reise angekommen sind. »Die wirklichen Probleme beginnen für viele erst in Deutschland, wenn die Leute merken, dass ihre Flucht zu Ende ist, und sie mit der Realität dort konfrontiert werden, die aber wenig mit den Illusionen zu tun hat, die sie sich vom Leben dort gemacht haben«, erzählt sie.
Den wenigsten Flüchtlingen kann man in Lesbos nachhaltige Hilfe anbieten. Für sie ist die Insel eine reine Durchgangsstation, alle wollen nur weiter, so schnell wie möglich. Manal Shehada, die aus Nazareth stammende Koordinatorin von Israid, fasst ihre ­Erfahrungen zusammen: »Auch wenn Flüchtlinge schwer traumatisiert sind, ja sogar Familienangehörige unterwegs verloren haben, denken sie nur an die Weiterreise. Erst wenn sie in Deutschland angekommen sind, brechen viele dann förmlich zusammen.« Deshalb hält auch sie es für wichtig, die Flüchtlinge auf ihrer Reise zu begleiten, mit ihnen in Kontakt zu bleiben. »Wir haben von einigen, die dringend psychologische Hilfe benötigen, die Fallbeschreibungen und suchen nun auch Partner in Deutschland, um für ihre weitere Betreuung zu sorgen.«
Und doch bleiben ein paar Flüchtlinge länger als nur zwei Tage auf der ­Insel, weil ihnen das Geld für die Fährfahrt fehlt, sie noch auf Familienan­gehörige warten oder von den Strapazen zu geschwächt für die Weiterreise sind. Für ihre Unterkunft ist in Pykpa gesorgt, einer privat betriebenen Einrichtung in der Nähe des Flughafens, die mehr an ein Jugendsommercamp als an ein Flüchtlingslager erinnert. Dort sind Flüchtlinge in Holzhütten oder stabilen Großraumzelten untergebracht und ehrenamtliche Helfer kümmern sich um sie. André Chaomar ist einer von ihnen. Er kommt aus Suleymaniah im kurdischen Nordirak und wuchs in Schweden auf, wo er ein Restaurant besaß, bis er im Oktober vergangenen Jahres nach Lesbos kam. Inzwischen hat er sein Restaurant verkauft und organisiert unter anderem die Beschaffung von Lebensmitteln und Kleidung. Zusammen mit Aldeen überlegt er, seine Tätigkeit in den Nordirak auszudehnen. Man müsse im Nahen Osten etwas tun, damit nicht weitere Hunderttausende sich auf den Weg machen, so Chaomar. Jeden Tag fische man Menschen aus dem Wasser, die eigentlich gar nicht kommen wollten. »Vor allem die Syrer sagen immer wieder, dass sie nicht aus ihrem Land weg wollen.« Aldeen gibt ihm Recht: »Diese Millionen von Menschen kann Europa auf Dauer nicht verkraften. Es wird daran zerbrechen. Die Lösung liegt im Nahen Osten.« Aber solange dort gekämpft, gebombt und gemordet werde, würden die Leute eben fliehen und er und seine Kollegen ihnen dann helfen.
Dem UNHCR zufolge sind in den ersten sechs Wochen dieses Jahres bereits 95 000 Flüchtlinge in Griechenland angekommen. Wenn sich die Lage in Syrien und der ganzen Region nicht nachhaltig verbessert, sind sich die Helfer sicher, werden ab dem Frühling, wenn die Temperaturen steigen, täglich noch mehr Boote übersetzen. Dass es der EU und der Türkei gelingen wird, den Seeweg nach Griechenland unpassierbar zu machen, glaubt hier niemand. Kaum verschärfen sich die Kontrollen auf türkischer Seite, suchen die Schleuser andere Routen auf entlegenere Inseln, die Überfahrten werden nur teurer und gefährlicher.
Wie ihre Arbeit in Zukunft aussehen wird, wissen die freiwilligen Helferinnen und Helfer alle nicht. Denn auf Lesbos sind sie nicht gerne gesehen, stellen sie doch im EU-Jargon sogenannte Pull-Faktoren dar: Wissen Flüchtlinge, dass ihnen geholfen wird, wirke das angeblich als Motivation, die gefährliche Reise anzutreten. Auch wenn die Behörden sich bislang in der Regel kooperativ zeigten und der Bürgermeister von Mytilini, Spyros Galinos, betont, die Bevölkerung bestehe mehrheitlich selbst aus Griechen, die 1922 aus der Türkei geflohen seien, verschärft sich der Ton gegen die Organisationen. Erst kürzlich wurde Aldeens Boot konfisziert, gegen ihn läuft ein Verfahren wegen Fluchthilfe, er musste eine hohe Kaution hinterlegen und darf Griechenland momentan nicht verlassen.
»Die wollen uns hier weghaben«, ist auch Amal Mahmut sicher. »Wir helfen nicht nur vor Ort, wir wären ja auch Zeugen, wenn sie Menschen dann wirklich zurückbringen in die Türkei.« Es sei außerdem wohl nur eine Frage der Zeit, bis Mazedonien seine Grenze ganz schließe und dann auch Syrer und Iraker in Griechenland hängenblieben.