Spielerische Elemente ziehen in alle Lebensbereiche ein

Die Ausbeutung des Spieltriebs

Gamification heißt der Ansatz, dem Ernst des Lebens eine spielerische Seite abzugewinnen. Pädagogik oder Betriebsabläufe in Computer­spiele zu verpacken, soll die Motivation steigern. Sobald es ernst wird, will sich die Lust am Spiel aber nicht so recht einstellen.
Von

Es ist eine alte Idee: Seit Generationen benutzen Pädagogen Spiele aller Art, um Kindern in der Schule Neues beizubringen oder Erlerntes einzuüben. Spiele im Stuhlkreis fördern die Gruppenerfahrung und beziehen alle Kinder ein. Von Stille Post über Rollenspiele bis zum Wettbewerb im Kopfrechnen haben wir alle wohl schon solche Spiele mitgemacht. Der Gedanke dahinter: Kommt der trockene Lehrstoff als Spiel daher, ist die Motivation, sich damit auseinander zu setzen, höher. Spielend lernen Menschen wahrscheinlich am besten – auch im Erwachsenenalter.
Auch die Wirtschaft setzt seit Jahrzehnten auf spielerische Elemente. Während die Verleihung eines Preises für den Mitarbeiter des Monats weniger als Spiel denn als harter Konkurrenzkampf empfunden werden dürfte, appellieren Rabattkarten und Treuepunkte an Sammelleidenschaft und Schnäppchenjägerei. Am Gewinnspiel kann teilnehmen, wer alle im Versandhauskatalog versteckten Ostereier gefunden und so ein Worträtsel gelöst hat. So animieren kleine Spielchen Konsumenten seit Jahrzehnten zum zusätzlichen Kauf – und zwar nicht nur die Hausfrau der Adenauer-Ära, wie die Bonusmeilen der Fluggesellschaften zeigen.
Dem fügte der Computer zunächst nur wenig hinzu: Im vergangenen Jahrhundert schenkten Eltern ihren Kindern wohlwollend C64 und Amiga, damit der Nachwuchs programmieren lernt und mit Vokabeltrainern spielt. Bis zu einem gewissen Grad hat das sogar funktioniert, auch wenn die rein der Unterhaltung dienenden Spiele von »Sim City« bis »Castle Wolfenstein« natürlich die meiste Zeit vor dem Bildschirm fraßen.
Doch seit die Digitalisierung und das Internet nahezu alle Lebensbereiche erfasst haben, gibt es Versuche, all diese Lebensbereiche auch zu gamifizieren. Ganz vorne dabei sind Unternehmen. Sie fingen schon früh an, ihre Kunden mit launigen Websites und Werbespielen anzulocken. Das bekannteste dieser sogenannten Advergames ist sicherlich die Moorhuhnjagd, die vor mehr als 15 Jahren extrem erfolgreich war, obwohl es sich ursprünglich um ein Werbung für Whisky handelte. Es folgten weitere Titel, ein Comic und eine Zeichentrickserie. Der Begriff Moorhuhnjagd fand sogar Eingang in den Duden. Damals gab es aber auch eine breite Debatte darüber, ob die Moorhuhnjagd nicht eine Bedrohung für Betriebsumsätze sei, weil Mitarbeiter an ihren Arbeitsrechnern nur noch spielten.
Angestellte sind ganz anders bei der Sache, wenn ihre alltäglichen Aufgaben in Computerspiele verpackt sind. Schließlich ist es der Job eines guten Spieledesigners, Aufgaben und Abläufe so zu gestalten, dass die Menschen Spaß daran finden. Das endlose Ausfüllen von Excel-Tabellen kann unglaublich langweilig sein, während die gleiche Aufgabe manchen Leuten viel Spaß macht, wenn es darum geht, Sporttabellen zu pflegen.
Das Eintauchen in ein Spiel erleichtert es Menschen, in einen sogenannten Flow-Zustand zu geraten. Studien zeigen, dass sich mit Gamification-Methoden Motivation und Lernerfolg steigern lassen – aber auch Kundenbindung und sogar der Umsatz von Betrieben. So wurde allerorten versucht, typische Spielelemente wie Erfahrungspunkte, Ranglisten oder Highscores in die Software für betriebliche Abläufe einzubauen. Wenn Unternehmen ihren Profit steigern, während Mitarbeitern die Tätigkeit mehr Spaß macht, ist das sicher nicht der schlechteste Deal. Von den vielen Gamification-Projekten blieb allerdings kaum mehr übrig als hübsch gestaltete Software. Bisher sind fast alle Versuche gescheitert, Unternehmens­abläufe sinnvoll als Computerspiel aufzubereiten. Überlebt haben Spiele wie »Ribbon Hero« oder »ERPsim«, die aber nur im Bereich der Mitarbeiterschulung eingesetzt werden. Sogar in der Piratenpartei gab es Ideen, die Mitglieder per Gamification zu motivieren, an den parteiinternen Abstimmungen per liquid feedback teilzunehmen. Der drollige Versuch, die Software mit einer Benutzeroberfläche im Stil eines Adventures wie »Monkey Island« zu versehen, kam allerdings nie über erste Entwürfe hinaus.
Nachdem solche Projekte reihenweise scheiterten und kaum ein Advergame auch nur annähernd so erfolgreich war wie die Moorhuhnjagd, besannen sich Unternehmen auf alte Ideen. Sie füttern den Spieltrieb ihrer Kunden wieder mit Rabattaktionen und gewinnen so Daten über das Einkaufsverhalten der Käufer. Leider fließen diese Daten eher selten in verbesserte Produkte, sondern vor allem in gezieltere Werbung.
Derlei ist harmlos, solange uns lediglich nach dem Online-Kauf eines Staubsaugers wochenlang Werbung für weitere Staubsauger eingeblendet wird. Bedenklicher ist eine andere Entwicklung: Der »Mitarbeiter des Monats« ist wieder da. Diesmal in Form von Sternchen, mit denen wir unseren Online-Kauf bewerten. Besternt werden Händler auf Ebay oder Amazon genauso wie Taxifahrer bei Mytaxi und Uber. Auch die Herzchen auf Instagram und Twitter oder das »Gefällt mir« bei Facebook sind nichts anderes als Punktesammelei im Konkurrenzspiel um die Aufmerksamkeit unserer Mitmenschen. Jenseits der Frage, wie das unser Sozialleben beeinflusst, rühren solche Bewertungssysteme an die Existenz, wenn beispielsweise Chauffeure bei Uber aufgrund einer schlechten Bewertung für eine Weile keine Fahrten mehr zugeteilt bekommen. Vor allem, wenn sie keine Möglichkeit bekommen, dieser schlechten Bewertung in irgend einer Form nachzugehen.
Das neueste Gamification-Phänomen heißt Quantified Self. Schrittzähler und Smart Watches helfen den Menschen, Daten über sich selbst zu sammeln und damit zu neuen Erkenntnissen zu finden. Doch es bleibt nicht beim Abgleich von Kalorienzufuhr und gezählten Schritten mit dem eigenen Wohlbefinden: Die Daten wandern in die Datenbanken der Anbieter. Dort werden sie nicht nur zu Werbezwecken analysiert, sondern auch für andere Nutzer aufbereitet. Freizeitmarathonläufer zeigen ihre zurückgelegten Wegstrecken in Kartenform auf Face­book und vergleichen ihre Bestwerte mit denen ihrer Freunde – Highscore und Rangliste inklusive. Was für die einen ein zusätzlicher Spaß und Ansporn im Wettbewerb ist, erhöht bei anderen eher die Frustration.
Überraschend ist, dass Gamification-Ansätze gerade dabei sind, eine ganz andere Branche zu beeinflussen: den Journalismus. Newsgames heißen die Computerspiele, die dem Gamer ein Stück Weltgeschehen vermitteln sollen. Dabei geht es nicht um aktuelle Nachrichten, sondern um die großen Zusammenhänge. In Titeln wie »End­game: Syria« oder »Bacteria Salad« tauchen die Spieler in den syrischen Bürgerkrieg ein oder lernen etwas über die Verbreitung von Kolibakterien. Das Spiel »Steuerflucht für Anfänger« zeigt, wie Steueroasen funktionieren, und in »Prism« wird der Spieler zum Geheimagenten, der Bürger im Internet ausforscht. Die Spiele-Designer bemühen sich um einen Spagat zwischen Spielspaß und Se­riosität der aufbereiteten Fakten. Tatsächlich sind diese Spiele ausgesprochen spannend und bergen durch den Perspektivenwechsel so manches Aha-Erlebnis. Allerdings verkaufen sich diese Titel kaum am Markt. Die meisten sind kostenlos, wie das vom Fernsesender Arte produzierte Spiel »Refugees«, in dem die Spieler die Aufgabe haben, als Reporter Flüchtlingscamps zu besuchen.
Wichtigstes Experimentierfeld bleibt die Schule. Schulbuchverlage bringen regelmäßig neue Lernspiele auf den Markt, die mit wenigen Ausnahmen ähnlich erfolglos sind wie die Gamification-Versuche in der Wirtschaft. Projekte wie »World of Classcraft« des Deutschlehrers Daniel Jurgeleit bleiben die Ausnahme. Er organisiert seinen Unterricht wie ein Online-Rollenspiel. Zwar erledigen die Schüler ihre Arbeiten ganz normal mit Heft und Füller, dabei sammeln sie allerdings wie im Vorbild »World of Warcraft« Erfahrungspunkte, mit denen sie ihre virtuelle Spielfigur nach und nach zu einem mächtigen Helden aufwerten. Für Punkte gibt es kleine Belohnungen wie ein Essen in der Klasse oder einen Spickzettel für die Klausur. Tatsächlich ließen sich so eine Reihe von Schülern motivieren, die vom klassischen Unterricht sonst nur schwer zu erreichen waren. Daniel Jurgeleit spricht von Notensprüngen von 4 auf 1. Allerdings sieht er auch, dass weiterhin Schüler ihre Hausaufgaben vergessen oder den Unterricht stören. Bleibt die Frage, ob diese Motivationsspiele wirklich so innovativ sind im Vergleich zum Fleißbienchen, das uns vor 30 Jahren in die Schulhefte geklebt wurde.