Die Ausbreitung des Salafismus in Belgien und das Versagen der Behörden

Plötzlich Schmuddelkind

Nach den Anschlägen von Brüssel und Paris zeigt ganz Europa mit dem Finger auf Belgien. In dem kleinen Land sollen über Jahrzehnte salafistische Strukturen gewachsen sein, die Sicherheitsbehörden seien dem nicht konsequent nachgegangen. Dabei lassen sich in Belgien Fehlentscheidungen und Missstände beobachten, die in ganz Europa existieren.

»Entweder sind sie unfähig oder sie sind dumm«, lautete das vernichtende Urteil des konservativen französischen Parlamentsabgeordneten Alain Marsaud über die Arbeit der belgischen Ermittlungsbehörden einen Tag nach der Festnahme Salah Abdeslams in Brüssel. Die Fahndung nach dem mutmaßlichen Drahtzieher der Pariser Attentate vom November vorigen Jahres hatte sich über Monate erstreckt, auch weil sich die belgische Polizei zum Teil peinliche Fehler leistete. Und dann geht es auch noch um Molenbeek. Es ist als islamistische Enklave in Europas Hauptstadt verschrien, unlängst mahnte auch Justizminister Heiko Maas (SPD), »solche Stadtteile in Deutschland gar nicht erst entstehen zu lassen«. Die Diagnose, dass die Sicherheitsbehörden unfähig seien und ganze salafistische Stadtviertel exustierten, verleitete einige Kommentatoren dazu, von Belgien als einem failed state, einem gescheiterten Staat ähnlich wie Somalia und Afghanistan also, zu sprechen. Was ist da los in dem kleinen Königreich zwischen Frankreich und den Niederlanden? Kann das Gastgeberland von EU und Nato Sicherheit, Wohlfahrt und Rechtsstaatlichkeit für seine Bürgerinnen und Bürger nicht mehr garantieren?
Belgien ist eigentlich ein ganz normales Land. Kriminalitäts- und Mord­rate liegen im europäischen Durchschnitt. Gut 83 Prozent aller Verbrechen werden aufgeklärt. Bildungs- und Gesundheitssysteme zählen zu den besten weltweit. Dennoch gibt es zahlreiche Probleme, die aus der komplexen Beschaffenheit des Staatsapparates und der Gesellschaft resultieren.
Traditionell dominieren in Belgien Parteien, Verbände und Tageszeitungen das politische Leben. Sie entwickelten sich relativ unabhängig von Monarchie und Föderalstaat und bauten Parallelstrukturen im Bereich öffentlicher Dienstleistungen auf. Die staatliche Verwaltung ist darauf angewiesen, auf eben jene Institutionen zuzugreifen, um ein Funktionieren des Sozialwesens zu gewährleisten und Sicherheit in der Öffentlichkeit herzustellen. Das schafft zwangsläufig ein Patronage-System, in dem Parteizugehörigkeit und kultureller Hintergrund bei der Besetzung von offiziellen Ämtern weitaus entscheidender sind als die persönliche Qualifikation für den Job. Die politische Macht dieser Parallelstrukturen zeigte sich in der belgischen Regierungskrise 2010/11, als das Land 589 Tage um eine neue Regierungskoalition rang, dennoch aber das öffentliche Leben nicht zum Erliegen kam. Es geht eben auch ohne Regierung ganz gut.
Eine ausgewogene Besetzung von öffentlichen Ämtern mit Angehörigen der flämischen und wallonischen Bevölkerungsgruppen verkompliziert die Rekrutierung im öffentlichen Dienst. Die vielzitierten 19 verschiedenen Brüsseler Verwaltungsbezirke inklusive eigener Bürgermeister und die sechs unabhängig voneinander agierenden Polizeiadministrationen sind ein Ergebnis eben dieser Patronage. Die lokalen Verwaltungsstrukturen sind selbst für Kenner obskure Gebilde, die einfachste Kommunikation erschweren, politisches Handeln verzögern und eine hohe Ineffizienz aufweisen. »Zu langsam, kompliziert und nicht effizient«, fasste Bart de Wever, Antwerpens Bürgermeister und Parteivorsitzender der separatistischen Neu-flämischen Allianz (N-VA), den Zustand des belgischen Staatsapparats in einem Interview mit dem Spiegel zusammen. »Politiker in Belgien arbeiten oft wie Handwerker in alten Häusern: Es wird ohne Blaupause vor sich hin gewerkelt.«
Angesichts aufgeblähter, aber unterbesetzter und ineffizienter Polizeibehörden zeigte sich kaum ein Belgier überrascht über den Skandal um den Sexualstraftäter Marc Dutroux, der in den achtziger und neunziger Jahren über zwölf Jahre im Verborgenen agieren konnte, oder über den Aufbau militanter islamistischer Strukturen in Brüssel, Lüttich und Charleroi. Beide Entwicklungen offenbarten stark fragmentierte Strukturen in Polizei und Justiz. Erst als Ende der nuller Jahre die Kriminalitätsrate im Land anstieg und Brüssel im Jahr 2009 den unrühmlichen Titel der Kriminalitätshauptstadt Europas verschaffte, wurden Polizei und Strafverfolgung reformiert. Unter anderem wurden die Brüsseler Polizeibezirke auf die heutigen sechs reduziert. Die Gewaltkriminalität nimmt seitdem beständig ab.
Bei aller Kritik und allem mangelndem Vertrauen in die Gestaltungskraft der Regierung darf allerdings nicht vergessen werden, dass in weiten Teilen der Bevölkerung ein starker belgischer Zentralstaat unerwünscht ist. Im französischsprachigen Wallonien im Süden des Landes werden verschärfte Sicherheits- und Überwachungsgesetze überwiegend abgelehnt. Zur Polizei pflegt man dort vielerorts ein nahezu freundschaftliches Verhältnis – solange sich diese zurückhaltend gegenüber den Bürgern verhält. Wochenendliche Alkohol- und Verkehrskontrollen werden dort beispielsweise von den Sicherheitsbehörden mit Ortsangabe in den Lokalzeitungen bekanntgegeben.
Die flämischen Hardliner im Norden hingegen sind die stärksten Advokaten eines zentralisierten Polizeiapparats und stärkerer Repression in kriminellen und islamistischen Brennpunkten. »Molenbeek aufräumen!« ist ein Slogan, der aus den Reihen von de Wevers konservativer N-VA stammt und in Flandern zustimmendes Kopfnicken hervorruft. Zum flämischen Separatismus gehört auch eine starke antiislamische Komponente.
Doch nicht nur in Fragen der Sicherheit liegen die Regionen Flandern und Wallonien über Kreuz. Etwa 60 Prozent der elf Millionen Einwohner Belgiens gehören der flämischen Bevölkerungsgruppe an, knapp unter 40 Prozent der wallonischen. Beide Bevölkerungsgruppen stehen sich traditionell misstrauisch gegenüber, wobei der Konflikt kaum die Form einer offenen Konfrontation annimmt, sondern vielmehr einem desinteressierten Nebeneinander gleicht. Noch heute beginnt der belgische König Philippe seine Weihnachtsansprache auf deutsch, der dritten Amtssprache, um nicht den Eindruck zu erzeugen, Flamen oder Wallonen zu bevorzugen. Diese Tatsache verdeutlicht, dass es etwas wie einen genuin belgischen Nationalismus, wenn überhaupt, dann wohl nur bei internationalen Fußballspielen gibt. Die königliche Familie taugt mehr als Spottobjekt denn zur Identifikation. Die Anekdoten und Witze über Prinz Laurent würden regionenübergreifend mehrere Bände füllen.
Jenseits des Spotts über das Königshaus aber findet Identitätspolitik in Belgien streng entlang der flämisch-wallonischen Demarkationslinie statt. Die Gruppe jener Belgier, die sich speziell als Belgier verstehen, ist vor allem im flämischen Norden verschwindend gering. Zwischen beiden Bevölkerungsgruppen eröffnet sich somit ein identitätspolitisches Vakuum für die Menschen, die sich weder als Flamen noch als Wallonen verstehen: die Nachfahren von Arbeitsmigranten aus Marokko und der ehemaligen Kolonie Kongo. Die Angehörigen dieser Gruppen leben oft isoliert in ihren eigenen Communities. Molenbeek ist dafür nur ein Beispiel. Ihre Versuche, sich als Belgier zu identifizieren, werden häufig mit einem Lächeln quittiert. Hier scheitert die belgische Politik, integrative Identitätsangebote zu bieten. Vielmehr werden diese Communities von der Politik und den lokalen Verwaltungen vernachlässigt, es mangelt an Konzepten. »Das französischsprachige Bildungssystem hat es unter anderem verpasst, Kindern aus diesen Vierteln Flämisch beizubringen. In einem zweisprachigen Land wie Belgien ist das fatal, wenn du einen Job finden willst«, sagt der belgische Journalist Roeland Termote, der selbst einige Jahre in Molenbeek lebte, der Jungle World. »Für die Kids aus Molenbeek ist der Flughafen in Zaventem manchmal die einzige Chance auf Arbeit.«
Es sind diese vernachlässigten Stadtviertel in Brüssel, Charleroi und Lüttich mit überwiegend muslimischer Bevölkerung und hoher Arbeitslosigkeit, in denen sich die salafistische Bewegung »Sharia4Belgium« ausbreitete. Die Entscheidung der belgischen Regierung in den siebziger Jahren, im Austausch gegen billiges Öl aus Saudi-Arabien wahhabitische Prediger ins Land zu lassen, trug erheblich dazu bei, dass hier ein belgischer Jihadismus entstand, der dem französischen stark ähnelt. Das gestand unlängst auch der französische Premierminister Manuel Valls in einem Interview mit dem Radiosender Europe 1: »Ich kann den Belgiern keine Lektionen erteilen. Wir haben ebenfalls Viertel in Frankreich, die unter dem Einfluss von Salafisten und Drogendealern stehen.«
Doch wie schlimm steht es um Molenbeek tatsächlich? Salafistische Enklave, sozialer Brennpunkt? »Man sollte Molenbeek vielmehr mit Neukölln vergleichen als mit Rakka. Es ist besser hier als in den französischen banlieues und bei weitem nicht so gefährlich wie in einigen Teilen Londons. Im Gegenteil: Viele Künstler und Familien ziehen hierher. Die Community ist intakt«, sagt Termote. »Molenbeek leidet aber auch unter ernsten stadt- und integrationspolitischen Fehlentscheidungen, wie so viele andere Viertel in Belgien und Europa.«
Verfehlte Stadt- und Integrationspolitik sind keine belgische Eigenheit – ebensowenig wie der Kommunikationsmangel unter europäischen Polizeibehörden. Fast hilflos sagte Molenbeeks Bürgermeister gegenüber Euronews: »Im normalen Leben gibt es hier keine Probleme, aber Menschen, die in einer Schattenwelt leben. Wir haben sie in Ruhe gelassen. Wir haben uns nicht die richtigen Fragen gestellt.«