Hunderttausende Menschen in Deutschland sind nicht krankenversichert

Krebs und keine Krankenversicherung

Der Fall des früheren Piratenparteipolitikers Claudius Holler zeigt: In der Mittelschicht können sich viele Krankheit nicht mehr leisten.

Die Firma lief schlecht. Aber Claudius Holler kämpfte für sie – sie war sein Werk. Als er schließlich überhaupt kein Geld mehr hatte, sparte er sich auch noch die Beiträge für seine Krankenkasse. »Das kriege ich schon wieder hin, wenn es wieder läuft«, dachte er. Inzwischen ist die Firma fast über den Berg. Aber jetzt hat Holler ein viel größeres Problem: Hodenkrebs. Und er ist nicht krankenversichert – wie Hunderttausende in der Bundesrepublik.
Nicht krankenversichert? Keine Behandlung bei medizinischen Problemen, weil das Geld fehlt? So etwas gibt es in den USA, aber nicht in Deutschland – davon sind viele überzeugt. Doch hierzu­lande kann man schnell durchs soziale Netz fallen, wie der Fall Holler zeigt. Vor 13 Jahren hatte er mit seinem Bruder eine Firma gegründet, zunächst als Werbeagentur, zuletzt verkaufte das Start-Up erfolgreich Getränke. Aus heiterem Himmel meldete der wichtigste Geschäftspartner, ein Getränkeabfüller, vor anderthalb Jahren Insolvenz an. Plötzlich stand die Produktion still. Der Umsatz brach ein, die Fixkosten blieben. Die Brüder entließen sich selbst, um die Kosten zu senken. Seitdem ist Holler selbständiger Gesellschafter seines Unternehmens. 570 Euro sollte der Hamburger im Monat an die Krankenkasse zahlen, obwohl er nichts verdiente. »Ich war immer gesund, ich dachte, ein paar Monate ohne Krankenversicherung, das ist kein Problem«, sagt der frühere Spitzenkandidat der Hamburger Piratenpartei, der diese ­allerdings längst verlassen hat.
Die Firma kann mittlerweile wieder produzieren und ihre Getränke vertreiben. Aber erstmal ohne Holler. Beim Toben knallte sein Hund frontal in seinen Unterleib. Als Holler eine Woche später die Schmerzen nicht mehr aushalten und keine Treppe mehr steigen konnte, ging er schließlich zum Arzt. Eine Hodenprellung, hieß es erst. Dann bekam er die niederschmetternde Diagnose: Hodenkrebs. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bei seiner Krankenkasse 9 000 Euro Schulden – dachte er. Tatsächlich seien es 16 000 Euro, teilte ihm die Kasse mit. Denn zu den ausstehenden Beiträgen kommen sogenannte Säumniszuschläge. Solange er seine Schulden nicht zahlt, hat er nur Anspruch auf eine Behandlung in akuten Notfällen. Ob Krebs dazugehört, liegt im Ermessen der Krankenkasse. In seiner Verzweiflung startete Holler einen Spendenaufruf im Internet, den via Youtube, Twitter und Facebook Hunderttausende gesehen haben.
Nicht krankenversichert zu sein, ist in Deutschland nicht vorgesehen. Die Bundesregierung hat 2007 zunächst für gesetzlich Krankenversicherte und 2009 für Privatpatienten die Versicherungspflicht eingeführt. Wer dauerhaft in der Bundesrepublik lebt, muss eine Krankenversicherung haben. Sanktionen von staatlicher Seite bei fehlender Krankenversicherung gibt es nicht. Aber Beiträge müssen bis zu vier Jahre rückwirkend gezahlt werden, plus Säumniszuschlag. In kurzer Zeit wächst ein großer Schuldenberg an. Der verhindert, dass sich Menschen einfach wieder versichern. »Ich habe Mails von Leuten bekommen, die ich seit Jahren kenne und von denen ich nie gedacht hätte, dass sie nicht krankenversichert sind«, sagt Holler.
Die Bundesregierung geht davon aus, dass 2014 etwa 80 000 Menschen in Deutschland keine Krankenversicherung hatten. Tatsächlich sind es einige Hunderttausend, sagen Sozialverbände. Gerade für Selbständige sind die Beiträge unverhältnismäßig hoch. Im Zuge der Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Regierung ist die Zahl der Selbständigen in Deutschland stark gestiegen, vor allem die der Solo-Selbständigen mit geringem Verdienst, die keine Angestellten haben. Für bestimmte Berufsgruppen wie Künstler, Publizisten und Landwirte gibt es Ausnahmen. Aber die Regel ist, dass Selbstän­dige den Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeitrag zahlen müssen. Die Krankenkassen gehen von einem fiktiven Einkommen bei der Beitragsbemessung aus, bei Selbständigen wie Holler von mindestens 2 100 Euro – obwohl er nichts verdient hat. Unter bestimmten Umständen können die Beiträge auf Antrag bei der Krankenkasse gesenkt werden. Aber das wusste Holler – wie die allermeisten in ähnlicher Lage – nicht. In der privaten Krankenversicherung hängen die Prämien nicht vom Verdienst ab, sondern vom jeweiligen Gesundheitszustand. Auf Dauer ist das nicht billiger.
Dass die Lage gerade für Selbständige fatal ist, finden auch Experten. Der Reformbedarf sei unübersehbar, stellen Dietmar Haun und Klaus Jacobs vom Wissenschaftlichen Institut der AOK fest. Die Beitragsregelungen für Selbständige seien nicht mehr angemessen, sagen sie. Denn viele lebten unter prekären Bedingungen. Ihrer Untersuchung zufolge muss jeder fünfte Selbständige 46,5 Prozent seiner Einkünfte für die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ausgeben. Bei Mitgliedern der privaten Krankenversicherung (PKV) sind es sogar 58 Prozent. »Ohne finanzielle Unterstützung, zum Beispiel von Familienangehörigen, sind die Belastungen in diesem Einkommenssegment für PKV- und GKV-versicherte Selbständige kaum zu schultern«, heißt in der Analyse von Haun und Jacobs. Holler fordert, dass sich der Krankenkassenbeitrag am tatsächlichen Verdienst orientieren sollte.
Dass das System nicht funktioniert, hat sich bereits kurz nach Einführung der Krankenversicherungspflicht gezeigt. In wenigen Jahren waren bei den Krankenkassen und privaten Versicherern Beitragsschulden in Milliardenhöhe aufgelaufen. Deshalb beschloss die Koalition aus CDU/CSU und FDP als eine ihre letzten Maßnahmen einen Beitragsschuldenerlass. Nichtversicherte konnten bis Ende 2013 zurück in ihre alte Krankenkasse oder private Versicherung, ohne die ausstehenden Beiträge und Säumniszuschläge zahlen zu müssen. Davon haben aber nur rund 25 000 Menschen Gebrauch gemacht. Denn das Grundproblem ist nach wie vor nicht gelöst: Wer sich vorher die Beiträge nicht leisten konnte, konnte es danach auch nicht. Wer nicht erwerbstätig ist und kein Arbeitslosengeld, kein Hartz IV und keine Rente bezieht, muss gleichwohl Krankenkassenbeiträge zahlen. Auch hier spielt das tatsächliche Einkommen keine Rolle. In diesen Fällen gehen die Kassen von einem fiktiven Einkommen aus, so dass monatlich weit über 100 Euro fällig werden. Das überfordert etliche. Wer sich ohne gültige Aufenthaltspapiere in Deutschland aufhält, kann sich überhaupt nicht versichern.
Bei Arbeitern und Angestellten zieht das Unternehmen die Beiträge zur Krankenversicherung automatisch vom Lohn ab. Aber auch wer einen Minijob hat, ist möglicherweise nicht krankenversichert – obwohl das gesetzlich anders geregelt ist. Zum Beispiel Elke U.*: Sie verdient mit ihrem Job als Packerin bis zu 400 Euro im Monat, je nachdem, wie oft und lange ihr Arbeitgeber sie anheuert. Sie lebt mit dem Vater ihrer beiden Kinder in einem Reihenhaus im Ruhrgebiet, die beiden sind nicht verheiratet. Elke U. ist nicht mehr krankenversichert, seit sie vor vielen Jahren aus der damaligen Sozialhilfe gefallen ist. Die Krankenhausrechnung für die Geburt ihres jüngsten Kindes hat sie selbst bezahlt. Ihr Partner verdient nicht schlecht. Wären die beiden verheiratet, wäre Elke U. über ihn versichert. Aber die beiden wollen nicht heiraten. Elke U. ist mittlerweile sehr geübt darin, so zu tun, als wäre sie versichert. Bei der Einstellung hat sie vorgegeben, sie hätte ihre Krankenkassenkarte vergessen – und kam damit durch. »Ich kenne viele Frauen, die nicht krankenversichert sind«, sagt sie. Manche haben ihre Versicherung durch eine Scheidung verloren, andere sind irgendwann wie sie aus dem staatlichen System gefallen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie das Geld für die monat­lichen Beiträge nicht aufbringen können. Der Mann von Elke U. sieht nicht ein, dass er die Prämien zahlt – obwohl sie den Haushalt schmeißt und sich um die Kinder kümmert. Elke U. findet das nicht ungewöhnlich, einigen ihrer Kolleginnen geht es nicht anders.
Holler hat durch seinen Spendenaufruf eine fünfstellige Summe zusammenbekommen. Nach seiner Operation Mitte April wird er Verhandlungen mit seiner Krankenkasse aufnehmen. Noch steht nicht fest, ob sie die Behandlungskosten für die Krebstherapie übernimmt. Absurd: Obwohl die Kasse Beiträge für diese Zeit verlangt, kann sie sich auf den Standpunkt stellen, dass er zum Zeitpunkt der Diagnose nicht versichert war – und zwar auch dann, wenn er das Geld nachzahlt. Das ist Ermessenssache. Unter seinen Spendenaufruf hat Holler nun zwei andere Kontonummern gestellt – von den Projekten »Praxis ohne Grenzen« in Bad Segeberg und der »Malteser Migranten Medizin«. Beide wurden von Ärzten ins Leben gerufen, um Menschen ohne gültige Aufenthaltserlaubnis eine Anlaufstelle zu bieten. Zur Überraschung der Betreiber kamen und kommen aber vor allem Leute aus der abgestürzten deutschen Mittelschicht, die keine Versicherung haben. »Wir brauchen eine politische Lösung«, sagt Holler. »Genug Spenden für alle ohne Krankenversicherung werden wir nicht hinbekommen.«
* Voller Name der Redaktion bekannt.