Virtuelle Tode

In düsteren Zeiten ist es umso schöner, auch einmal etwas Erfreuliches berichten zu können. Kürzlich hatte ich ja vorgeschlagen, eine Künstliche Intelligenz (KI) als intellektuellen Begleiter der Menschheit zu konstruieren, um die wirklich wichtigen Fragen beantworten zu können. Der israelische Wissenschaftler Guy Yachdav hat mit Hilfe von Studierenden der Technischen Universität München schon damit angefangen. Das Projekt »A Song of Ice and Data« betraute eine KI mit der Aufgabe, die Überlebens- und Auferstehungswahrscheinlichkeit der Charaktere von »Game of Thrones« zu berechnen. Um Uneingeweihten die Bedeutung dieser Angelegenheit zu verdeutlichen, ist vielleicht ein historischer Vergleich hilfreich. Vor knapp 2 000 Jahren wurde ein jüdischer Aufrührer namens Jesus von Nazareth gekreuzigt. »War das nun alles?« fragten sich bange seine Anhänger, die Antwort erhielten sie bekanntlich bereits am dritten Tag. Die Antwort auf die Frage, ob Jon Snow auferstehen wird, beschäftigt Fans der Serie bereits seit mehr als neun Monaten, Leser der ihr zugrunde liegenden Bücher sogar schon seit fünf Jahren. Die Gemeinde ist also bereits sehr, sehr ungeduldig.
Die gute Nachricht ist, dass Yachdavs KI für Jon Snow nun eine Auferstehungswahrscheinlichkeit von 89 Prozent berechnet hat. Das ist, nebenbei bemerkt, ein wesentlich höherer Wert, als er bei der Berechnung der Wahrscheinlichkeit einer tatsächlichen Auferstehung Jesu zu erwarten wäre. Im Fall von Jon Snow besteht zudem absolute Klarheit darüber, dass ein für die Auferstehung zuständiges Wesen existiert. Es heißt George R. R. Martin. Daraus ergibt sich allerdings ein Problem. Der Autor der Bücher ist ohnehin nicht zu beneiden, denn er kann sich nicht mit unergründlichen Ratschlüssen aus der Affäre ziehen. Nun mischt sich auch noch eine KI in seine Angelegenheiten. Die meisten Fans werden empört sein, dass er mit einer Wahrscheinlichkeit von 68 Prozent Arya Stark sterben lassen wird und Daenerys Targaryen kaum eine Überlebenschance hat. Überdies ist die Datengrundlage der KI nicht zuletzt Martins eigenes Werk. Ihm wird also nun von einer Künstlichen Intelligenz, die bei ihren bisherigen Prophezeiungen eine Trefferquote von immerhin 74 Prozent vorweisen kann, mitgeteilt, wie seine natürliche Intelligenz sich entscheiden wird. Die Frage der Prädestination erscheint da in einem neuen, künstlichen Licht. Ich wäre empört, wenn eine KI meine nächste Kolumne vorhersagen könnte, und würde aus purer Bockigkeit über irgendetwas schreiben, was sie nicht berechnen kann, weil es in meinen bisherigen Artikeln nicht vorkam. Fußball! Ha, das hättest du nicht gedacht, du digitaler Wichtigtuer! Martin ist wahrscheinlich souveräner. Aber falls nicht, könnte dies der erste von einer KI begangene virtuelle Mord sein, weil Jon Snows Auferstehung zwecks anthropogener Widerlegung einer digitalen Prophezeiung entfällt.