Die Bundesregierung streitet um die Genehmigung von Studien an Demenzkranken

Eigennutz geht vor Gruppennutz

Mit der Novellierung des Arzneimittelgesetzes wollte die Bundesregierung Studien an Demenzkranken genehmigen, die keinen direkten Nutzen von der Behandlung gehabt hätten. Im Bundestag regte sich jedoch so viel Unmut, dass die Abstimmung über das Gesetz vertagt wurde.

Es ist nicht immer leicht mit dem wissenschaftlichen Fortschritt. Gerade im Bereich der Medizin gilt es, viele Auflagen zum Schutz der Patienten zu erfüllen. Neue Medikamente durchlaufen umfangreiche Testreihen, bevor sie schließlich in den Handel kommen. Gerade die Anwendung am Menschen ist in Deutschland, aber auch in vielen anderen europäischen Ländern, sehr strikt geregelt. Nicht zuletzt wirkt die Erinnerung an die grausamen medizinischen Versuche an Menschen während der NS-Zeit nach.
So ist es kein Wunder, dass ein Vorhaben des Gesundheitsministeriums unter Hermann Gröhe (CDU) nicht einfach so durchgewinkt wurde. Die geplante Novelle des Arzneimittelgesetzes (AMG) enthielt zu viele heikle Stellen. Mit dem »Vierten Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften« sollten eigentlich nur die deutschen Regelungen an das EU-Recht angeglichen werden. In dem Entwurf zum Gesetz geht es unter anderem um die Genehmigung, Überwachung und Ausführung klinischer Studien. Bislang dürfen diese nur genehmigt werden, wenn das erprobte Medikament einen direkten Nutzen für die Studienteilnehmer verspricht. Künftig sollen diese Versuche auch bei Patienten möglich sein, die an schwerer Demenz erkrankt sind – ohne einen direkten Nutzen für diese Patienten selbst. Die Erprobung neuer Medikamente würde dann nur der Forschung dienen, nicht aber einer Heilung oder Linderung bei den Probanden. Im Fachjargon heißt dieses Verfahren »gruppennützige Forschung«.
»Es gibt jedoch, wie bei allen Studien, Anwendungsrisiken. Die Hoffnung ist, dass vielleicht andere oder zukünftige Patienten mit einer vergleichbaren Erkrankung von der Forschung profitieren. Das unterscheidet diese Tests von ›eigennützigen‹ klinischen Studien, bei denen immer auch von einem Nutzen für den Teilnehmer selbst ausgegangen wird«, sagt Eugen Brysch, der Geschäftsführer der Deutschen Stiftung Patientenschutz. In dem Gesetzentwurf ist zwar vorgesehen, dass man in einer Patientenverfügung der Teilnahme schriftlich zugestimmt haben muss. Menschen mit einer geistigen Behinderung beispielsweise werden so vor einem Zugriff der Forschung geschützt.
Kritiker sehen dennoch genug Gründe für eine strikte Ablehnung des Unterfangens. »Derartige klinische Prüfungen bergen die Gefahr in sich, dass der Mensch zum Nutzen anderer ins­trumentalisiert wird, zum bloßen Objekt herabgestuft und benutzt wird«, warnten die Evangelische Kirche und die deutschen Bischöfe in einer gemeinsamen Erklärung im Mai. Ihnen ging gerade der Passus der Patientenverfügung nicht weit genug. »Es bedarf einer aufgeklärten und informierten Einverständniserklärung des Betroffenen selber. Dem aber wird die vorliegende Regelung nicht gerecht. Denn sie setzt lediglich eine Patientenverfügung des Betroffenen voraus, die bekanntermaßen ohne jegliche Beratung und Aufklärung getroffen werden kann«, mahnten die Kirchenvertreter.
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz hält die Regelung ebenfalls für unzureichend: »Wir fordern eine verpflichtende Beratung: Wer sich in gesunden Tagen und im Voraus für etwaige zukünftige Studien an seinem Körper bereit erklären möchte, benötigt umfassende Informationen. Er muss zu Chancen und Risiken einer solchen Studienteilnahme aufgeklärt worden sein. Die Berater müssen in diesem Gebiet erfahren und unabhängig sein«, sagt Brysch.
Anfang Juni nahm die Bundesregierung schließlich die Abstimmung über die Novellierung vorerst von der Tagesordnung. Und das, obwohl sich zuvor Bundesforschungsministerin Johanna Wanka (CDU) noch einmal deutlich für den Gesetzentwurf ausgesprochen hatte. Für schwere Erkrankungen müssten Medikamente entwickelt werden können, argumentierte sie. Im Bundestag begrüßten Abgeordnete der Grünen und der Linkspartei die Entscheidung der Koalition. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katja Dörner, sagte, die Pläne seien »ethisch höchst bedenklich«. Ähnlich äußerten sich Behinderten- und Ärzteverbände.
Die Umschreibung »deutsche Regelungen dem EU-Recht anpassen«, die in der derzeitigen Debatte regelmäßig verwendet wird, ähnelt Formulierungen, die in der Diskussion um die umstrittene Bioethikkonvention der EU in den neunziger Jahren gebräuchlich waren. Damals waren in nicht öffentlich tagenden Expertengruppen Entwürfe für eine europaweite Konvention zur Bioethik erarbeitet worden. Als diese schließlich 1999 zur Ratifizierung vorlag, entschied sich unter anderem Deutschland gegen eine Unterschrift. »Die Bioethikkonvention des Europarates enthält ebenfalls eine wachsweiche Regelung zu gruppennützigen Studien mit Menschen, die nicht mehr einwilligungsfähig sind. Vor diesem Hintergrund ist es gut, dass Deutschland sie noch nicht ratifiziert hat«, sagt Brysch.
Aber es gibt auch Stimmen, die die Ausweitung auf gruppennützige Forschung eindeutig befürworten. Man habe »auch eine Verantwortung vor den kommenden Generationen«, sagte etwa der Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach (SPD). Dieser Argumentation hält Brysch entgegen: »Niemand sollte so tun, als gäbe es heute keine medizinische Forschung auf diesem Gebiet. Sie gibt es auch mit Demenzkranken, wenn diese daraus erwartbar einen eigenen Nutzen ziehen. Der lange ersehnte Durchbruch ist jedoch bis heute nicht gelungen. Ob gruppennützige Forschung dazu überhaupt einen Beitrag leisten kann, ist derzeit sehr umstritten. Selbst die forschenden Pharmafirmen sehen bislang keinen konkreten Bedarf.« Er spricht einen erstaunlichen Sachverhalt an. Der Verband der forschenden Pharmaunternehmen (VFA), dessen Aussagen angesichts seiner Größe erhebliches Gewicht haben, hat eindeutig erklärt: »Die forschenden Pharmaunternehmen benötigen daher für ihre Entwicklungsarbeit keine Gesetzesänderung.«
Das ist ein wichtiges Detail. Offensichtlich ist es höchst fraglich, ob eine Novellierung des Gesetzes mit gleichzeitiger Aufweichung bisheriger Schutzvorschriften wirklich nötig ist. Wer alle Stimmen gegeneinander abwägt, könnte leicht zu dem Schluss kommen, dass eine Änderung nicht dringend erforderlich ist. Es scheint, als habe sich Gröhe bei seinem Vorhaben im Wesentlichen von Wolfgang Maier leiten lassen. Der renommierte Professor der Psychiatrie an der Universitätsklinik Bonn hatte immer wieder gefordert, für fortgeschrittene Stadien der Demenz wirksame Therapien zu entwickeln. Dazu sei nun einmal gruppennützige Forschung unabdingbar, so der Mediziner.
Derzeit, so scheint es, wird es keine hektische und übereilte Novellierung des AMG geben. Zwar ist die Abstimmung bisher nur vertagt, doch die umfassenden Einwände machen eine ausführliche Debatte über das Thema unumgänglich. Der Fortschritt wird wahrscheinlich nicht darunter leiden.