In Brasilien steckt nun auch die Interimsregierung in der Krise

Ein Referendum soll es richten

In Brasilien nehmen selbst Teile der Rechten Abstand von der desolaten Interimsregierung, die erst seit einem Monat amtiert. Die Linke setzt auf Neuwahlen.

Brasilianische Zeitungsverkäufer haben es nicht leicht. Hält sich die allgemeine Lesefreude der Bevölkerung generell schon in Grenzen, waren die vergangenen zwölf Monate ein absoluter Absatzalbtraum. In Zeiten der Fußball-WM gaben die Leute ihr Geld lieber für Bier als Lektüre aus und nun, wo das Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff und die übereilten Entscheidungen der Interimsregierung um Michel Temer Nachrichten am laufenden Band produzieren, kann die Tagespresse mit der Frequenz der Meldungen nicht mithalten. »Die Menschen sind sparsam geworden, denn wer weiß, wie lange die politische Krise noch dauern wird«, sagt Giorgio, ein Kioskbetreiber an der Copacabana, bevor er anfängt zu schimpfen: »Ich war gegen die Arbeiterpartei, habe einen vorzeitigen Regierungswechsel unterstützt. Und wofür? Nur um jetzt zu erleben, dass die Opposition genauso korrupt ist. Vielleicht ist Figueiredos Enkel ja wirklich unsere letzte Hoffnung.«
Giorgios Augenzwinkern macht den Kommentar nicht leichter verdaulich. João Figueiredo war von 1979 bis 1985 der letzte Präsident der Militärdiktatur, die seit 1964 herrschte; sein Enkel, Paulo Figueiredo Filho, ist ein Immobilienmakler mit politischen Ambitionen, Geschäftspartner der Familie Trump und ehemaliger Berater des amtierenden Bürgermeisters von Rio de Janeiro. Sein Motto lautet: »Das Ende der Moderaten ist gekommen.« Figueiredo Filho fordert unter anderem, dass die sozialen Bewegungen der Minderheiten im Land »massakriert werden müssen«, behauptet, dass der KGB alle linken Zeitungen und Universitäten kontrolliert, spricht gern von »Feminazis« und ist für eine Lockerung der Waffengesetze. Die Bewunderung für den Reaktionär sagt viel aus über die derzeitige Desillusionierung im Land, auch wenn der 33jährige Figueiredo Filho derzeit nicht für eine Partei kandidiert und Wahlen eigentlich erst 2018 anstehen.
Doch die katastrophale Bilanz der Interimsregierung der Mitte-rechts-Partei PMDB setzt diese immer stärker unter Druck. Die erhoffte »positive Reaktion der Märkte« auf eine konservative Regierung blieb weitgehend aus. Der Wechselkurs des Real verbesserte sich nur unmerklich, Investoren sind ebenso zurückhaltend wie der Rest der Bevölkerung – die Konsumrate sank in der vergangenen Woche auf einen historischen Tiefstand. Dabei war Temers Kabinett nicht untätig und setzte sogar eine Verfassungsänderung durch, die Einsparungen beim staatlichen Wohnungsbau, im Bildungs- und Gesundheitswesen ermöglicht. »Es ist ein Versuch, das neoliberale Programm der neunziger Jahre an die neuen historischen Bedingungen anzupassen, die der oberflächliche Reformismus der Arbeiterpartei hinterlassen hat«, analysiert Armando Boito, Politikwissenschaftler an der Staatlichen Universität von Campinas, in der Gewerkschaftszeitung Rede Brasil.
Doch warum ergreifen die brasilianischen Unternehmer und ihnen wohlgesinnte Politiker nicht die Gelegenheit? Boito macht dafür zunächst den Rückzug der rechtsliberalen Oppositionspartei PSDB in »die zweite Reihe« verantwortlich. Sie führte die obere Mittelschicht mit einer nationalistischen Agenda gegen die Arbeiterpartei (PT) auf die Straße und unterstützte den Machtwechsel. Zugleich sieht sie ihre Interessen vom ehemaligen Partner PMDB aber nur unzureichend repräsentiert und zeigt sich empört darüber, dass bereits drei Minister wegen Korruptionsvorwürfen zurücktreten mussten, darunter der Minister für Transparenz, Fabiano Silveira. Interimspräsident Temer selbst darf wegen illegaler Parteispenden in den kommenden acht Jahren für keine politischen Ämter kandidieren. Und sein Kollege Eduardo Cunha, der derzeit suspendierte Senatspräsident, droht ständig damit, »150 Abgeordnete, einen Senator und einen Minister zu Fall zu bringen«, sollte er seine politischen Ämter verlieren.
Brasilien drohe eine »vollständige Demoralisierung des Parlaments« wenn die involvierten Politiker sich nicht endlich einsichtig zeigen, warnt die vor drei Jahren von ehemaligen Mitgliedern der Arbeiterpartei gegründete Partei Rede. Doch das ist Rhetorik. Die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Marina Silva, die Rede gründete, setzt sich seit Wochen für Neuwahlen als »einzigen glaubwürdigen Ausweg« ein; auch deshalb, weil sie selbst ganz gute Chancen hätte. Ihre Idee findet inzwischen auch im Senat Anklang, wo gerade ein parteiübergreifendes Bündnis entsteht, das sich für ein Referendum einsetzt: Während der Kommunalwahlen Anfang Oktober soll die Bevölkerung dann zugleich darüber entscheiden, ob ein neues Staatsoberhaupt vorzeitig gewählt werden soll. Nicht wenige Senatoren, die bisher das Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff unterstützen, signalisieren, ihre politische Rückkehr zu unterstützen, wenn sie sich zu dem Plebiszit verpflichtet. Viele Anhänger des PT schlossen diesen Deal bisher vehement aus, denn er rechtfertige indirekt den »sanften Putsch« gegen eine linke Regierung. »Ich habe kein Problem damit, die Bevölkerung zu fragen, was sie will«, sagte dagegen Rousseff auf einer Pressekonferenz am Mittwoch vergangener Woche. »Wir müssen die derzeitige Situation überwinden. Wenn dazu Neuwahlen erforderlich sind, bin ich dafür.«
Ob es dazu kommt, ist jedoch fraglich. Zum einen stimmt der Senat frühestens Mitte August über die Zukunft Rousseffs ab – politische Manöver könnten ihre Wiedereinsetzung als Präsidentin bis in den Herbst vertagen. Da die parlamentarische Linke derzeit uneinig auftritt, werden die Auswirkungen dieser »Tage des politischen Horrors«, wie die Soziologin Maria Benevides die Lage des Landes zusammenfasst, vorerst weiterhin auf der Straße eingedämmt werden. Es waren landesweite Demonstrationen und Solidaritätskonzerte, die im Mai die Abschaffung des Kulturministeriums rückgängig gemacht haben. Der urbanen Obdachlosenbewegung MTST, die Anfang Juni ein Regierungsgebäude in São Paulo besetzte, ist es zu verdanken, dass das staatliche Wohnungsbauprogramm »Minha casa, minha vida« nicht wie von Temer geplant ausgesetzt wird. Und Tausende Feministinnen demonstrierten Ende Mai und Anfang Juni in vielen brasilianischen Großstädten mit Performances und Kundgebungen gegen den institutionalisierten Machismo – denn geht es nach der regierenden Partei PMDB und deren Frauenbeauftragten Fátima Pelaes, soll Frauen künftig selbst im Falle einer Vergewaltigung eine Abtreibung verwehrt bleiben. Auslöser für die Proteste war der Umgang mit einem extremen Fall von Gruppenvergewaltigung. Eine 16jährige war am 21. und 22. Mai 36 Stunden lang in einem Haus in einer Favela Rio de Janeiros festgehalten und von 33 Männern vergewaltigt worden, die danach Bildmaterial des Verbrechens in sozialen Medien verbreiteten. Ein Polizeikommissar hatte ihr zunächst nicht geglaubt und dem Opfer die Schuld zugeschoben, eine nicht nur bei brasilianischen Rechten verbreitete Einstellung.