Großbritannien nach dem EU-Referendum

Gefühlte Unabhängigkeit

Unmittelbar nach dem Referendum über den Austritt Großbritanniens aus der EU treten seine wichtigsten Befürworter zurück. Auch die Prognosen über die zukünftige britische Wirtschaftsleistung sind düster.

So kann man sich täuschen. Das »Projekt Angst« sei vorbei, hatte Boris Johnson nach dem für ihn siegreichen Ausgang des Referendums über die britische EU-Mitgliedschaft getönt. »Das Pfund ist stabil, die Märkte sind stabil« und die »Rechte aller EU-Bürger hier sind geschützt«. Kurz darauf stürzte die britische Währung auf den tiefsten Stand seit 31 Jahren, während weltweit die Börsenkurse fielen.
Und auch für Johnson, der maßgeblich die »Leave«-Kampagne angeführt hatte und dadurch zum wichtigsten Gegenspieler des britischen Premierministers David Cameron wurde, lief es nach dem Referendum nicht nach Plan. Überraschend verzichtete er vergangene Woche auf eine Kandidatur für den Parteivorsitz bei den Tories. Offenbar hatte sich Johnson auch bei seiner eigenen Karriereplanung verschätzt. Am Ende glaubte er vielleicht sogar selbst an seine fatale Mischung aus Lügen und Propaganda, wie zumindest eine seiner jüngsten öffentlichen Erklärungen nahelegt. Der freie Zugang zum europäischen Binnenmarkt für ­Waren und Dienstleistungen werde nicht eingeschränkt, schrieb Johnson vergangene Woche in einem Gastbeitrag im Daily Telegraph. Großbritannien werde aber wieder die »­demokratische Kontrolle über die Einwanderungspolitik übernehmen« und keine substantielle Geldsumme mehr an Brüssel überweisen.
In Johnsons Vorstellung drückt sich das gesamte Dilemma der »Brexit«-Befürworter aus. Sie wollen die Insel von Europa abkoppeln, gleichzeitig aber den Zugang zum EU-Binnenmarkt nicht verlieren. Dieser ist für die Briten nach wie vor von entscheidender Bedeutung. Rund die Hälfte der britischen Warenexporte und ein Drittel der Dienstleistungen, darunter die für London wichtigen Finanzgeschäfte, gehen in Richtung EU.
Deswegen steht aber auch für die EU-Mitgliedstaaten viel auf dem Spiel. Allen Ankündigungen aus Brüssel zum Trotz, dass nun harte Verhandlungen folgen müssten, um potentielle Nachahmer abzuschrecken, will vor allem die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel keine Eile. Der deutschen Wirtschaft ist an einem möglichst schonenden Übergang gelegen, um die Geschäftsbeziehungen nicht zu gefährden. Vieles spricht dafür, dass sich die Verhandlungen lange hinziehen können, zumal die britischen EU-Gegner bislang keine substantiellen Vorschläge haben, was nach dem Votum eigentlich geschehen soll.
Gegen schnelle Verhandlungen sprechen vor allem die bescheidenen Optionen, die sich den »Brexit«-Befürwortern derzeit bieten. Realistisch wäre ein Abkommen, wie es die EU etwa mit Norwegen unterhält. Dann müsste die Regierung in London allerdings weiterhin die meisten EU-Regeln übernehmen, während sie gleichzeitig jedes Mitspracherecht verlieren würde. Sie müsste weiterhin erhebliche Beträge an Brüssel überweisen und die Freizügigkeit von Personen innerhalb der EU akzeptieren. Großbritannien würde also die – aus Sicht der EU-Gegner – nachteiligen Pflichten einer EU-Mitgliedschaft übernehmen, ohne deren Vorteile zu genießen. Für britische Nationalisten alles andere als eine attraktive Wahl, denn in ihrer Kampagne ging es vor allem darum, den Zuzug weiterer Migranten zu verhindern. Die rassistische Propaganda hatte wesentlich zum Ausgang des Referendums beigetragen.
Einen Plan, wie es weitergehen soll, hat das »Leave«-Lager derzeit nicht, dafür aber viel Zeit und Energie für interne Machtkämpfe und Intrigen. So tauchte Johnson nach dem Referendum mehrere Tage ab – Zeit, die sein enger Vertrauter Michael Gove dafür nutze, sich selbst als potentiellen Nachfolger von Premierminister David Cameron ins Spiel zu bringen. Er habe erkennen müssen, dass Johnson die »nötigen Fähigkeiten fehlen, um das Land zu führen«, erklärte Gove nur wenige Stunden, bevor sein Rivale seine eigene Kandidatur bekanntgeben wollte. Er sei deshalb zu dem Schluss gekommen, dass Johnson nicht der Mann sei, »um das Team zu vereinen und die Partei und das Land in der Weise zu führen, wie ich es gehofft hatte«.
In vielen britischen Medien wird Gove nun vorgeworfen, ein doppeltes Spiel gespielt zu haben, um sich zum richtigen Zeitpunkt selbst an die Macht zu hieven. »Michael Gove hat Boris Johnson das Messer in die Rück- und Vorderseite gerammt«, heißt es in einer Kolumne der Daily Mail, die von der Journalistin Rachel Johnson, Boris Johnsons Schwester, verfasst wurde. »Er stieß ihn unter einen Bus, fuhr mehrmals über ihn rüber und erklärte dann, er müsse nun selbst für die Führung kandidieren.«
Auch Nigel Farage, der Vorsitzende der rechtspopulistischen Partei Ukip, trat Anfang dieser Woche zurück. Mit dem britischen EU-Austritt habe er seine politischen Ziele erreicht, erklärte er. Über weiterreichende Pläne sprach er nicht.
Was sich wie ein schlechtes Drehbuch für ein Politdrama liest, enthält eine reale Tragödie. Gerade jene Poli­tiker, die unentwegt gegen die Eliten und deren Dünkel gewettert haben, erweisen sich als besonders typische Vertreter einer politischen Klasse, die vornehmlich ihre eigenen Interessen verfolgt. Dass die Austrittsbefürworter jenen gefolgt sind, deren Haltung sie eigentlich so sehr verabscheuen, demonstriert das ganze Ausmaß an Irrationalität, die der Kampagne zugrunde lag.
Dazu passt, dass die »Leave«-Kampagne vor allem in den wirtschaftlich schwächsten Regionen des Landes unterstützt wurde. In den ehemaligen Zentren der englischen Schwerindus­trie fühlen sich viele Briten von »New Labour« verraten, da die Partei unter Tony Blair auf die neuen Finanz- und Dienstleistungsbranchen setzte und die abgehängten Städte und Kommunen weitgehend sich selbst überlassen hatte. Die drastische Spar­politik, die die Tory-Regierung in den vergangenen ­Jahren praktizierte, traf vor allem die ärmeren Schichten besonders hart. Doch beide Entwicklungen stehen nur bedingt im Zusammenhang mit der EU-Mitgliedschaft, zumal die Insel nicht direkt von der Euro-Krise betroffen ist. Das große Kunststück der »Leave«-Kampagne bestand darin, die Verantwortung für die Misere an Brüssel zu delegieren.
Daran konnte auch der Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn wenig ändern, dem vorgeworfen wird, sich zu wenig für den Verbleib in der EU eingesetzt zu haben. Corbyn, der die EU häufig als Eliten-Projekt kritisiert hatte, muss sich nun einem ­internen Machtkampf stellen. Unabhängig davon ist die Labour-Partei jedoch mit dem gleichen Problem wie viele andere sozialdemokratische Parteien in Europa konfrontiert. Zumindest ein Teil ihrer traditionellen Wählerschaft hat sich von ihr abgewendet und unterstützt rechtspopulistische und xenophobe Gruppierungen.
Es ist daher gut möglich, dass sich weitere Regionen und Länder abspalten, die sich dadurch wirtschaftliche oder politische Vorteile versprechen. So strebt die schottische Regierung ein weiteres Referendum über den Status des Landes an, um weiterhin EU-Mitglied bleiben zu können. Bislang zeigten sich zwar EU-Staaten wie Spanien oder Frankreich, die selbst mit separatistischen ­Bewegungen zu kämpfen haben, davon wenig be­geistert. Einem unabhängigen schottischen Nationalstaat wäre eine EU-Mitgliedschaft aber kaum zu verwehren. In Nordirland stellt die regierende Partei Sinn Féin ähnliche Über­legungen an, wobei in diesem Fall eine Abspaltung von Großbritannien ungleich komplizierter wäre.
Zugleich sehen viele rechtspopulistische Parteien in Europa nun eine historische Chance, ihre Länder von der verhassten EU-Mitgliedschaft zu lösen. »Der ›Brexit‹ ist der Anfang vom Ende der Europäischen Union, eine historische Zäsur wie der Fall der Berliner Mauer«, kommentierte begeistert Marine Le Pen, Vorsitzende des Front National (FN) in Frankreich. In Österreich denkt der FPÖ-Vorsitzende Heinz-Christian Strache bereits laut über einen möglichen Austritt Österreichs aus der EU nach, ebenso wie sein Parteifreund, Präsidentschaftskandidat Andreas Hofer. In anderen wirtschaftlich starken EU-Staaten wie den Niederlanden oder Finnland verfolgen rechtspo­pulistische Parteien ähnliche Ziele.
Unmittelbare Auswirkungen des »Brexit« sind aber bereits jetzt zu spüren. In der Woche nach dem Referendum haben sich die Fälle von Hasskriminalität nach Angaben der Times verfünffacht. In Birmingham flog eine Brandbombe in eine Halal-Metzgerei, in Cambridge fanden polnische Bewohner Flugblätter an ihren Wohnungstüren. »Die EU verlassen – kein polnisches Ungeziefer mehr« war darauf zu lesen. Das »Projekt Angst« hat gerade erst begonnen.