Boko Haram verschärft die Hungerkrise in Nigeria

Hunger als Waffe

Im Nordosten Nigerias und den angrenzenden Regionen der Nachbarländer herrscht der Hunger. Die Jihadisten von Boko Haram greifen vermehrt Hilfslieferungen an und verschärfen die Lage.

Die Miliz Boko Haram gilt als eine der mörderischsten Terrorguppen weltweit. Seitdem sie 2009 den bewaffneten Kampf gegen die Regierung Nige­rias aufgenommen hat, sind Schätzungen zufolge 20 000 Menschen ums Leben gekommen. 2,8 Millionen Nigerianerinnen und Nigerianer befinden sich auf der Flucht. Nur etwa zehn Prozent von ihnen leben in den Lagern, die von der Armee verwaltet werden. Die meisten fanden Zuflucht bei Verwandten, Freunden und Fremden, die ihr Haus für die Vertriebenen öffneten. Doch weitaus verheerender noch als der Terror der Islamisten könnte eine sich ausbreitende Hungersnot sein, an der zurzeit schon Hunderte Menschen pro Tag sterben.
Bereits seit zwei Jahren weist die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen auf die katastrophale Lage im Nordosten Nigerias und in den angrenzenden Ländern Tschad, Kamerun und Niger hin. Doch die Organisationen der Vereinten Nationen, die potentiell die größten Möglichkeiten haben, eine Hungersnot abzuwenden, erhalten nicht das notwendige Geld, um schnell zu inervenieren. Wie der britische Guardian berichtete, werden derzeit 279 Millionen US-Dollar benötigt, von denen bisher nur 75 Millionen US-Dollar beschafft werden konnten. Besonders kritisch sei die Lage im nigeria­nischen Bundesstaat Borno.
In den vergangenen Monaten konnte die nigerianische Armee in weiten Teilen Bornos die Kämpfer von Boko Haram zurückdrängen. Jetzt, da der Zugang zu diesen Gebieten unter Militärschutz halbwegs möglich ist, wird die verheerende Situation der Menschen, die dort zurückblieben, offensichtlich. Auf einer Pressekonferenz am 20. Juli wies eine Vertreterin von Ärzte ohne Grenzen darauf hin, dass eine halbe Million Menschen allein im Bundesstaat Borno umgehend Hilfe benötigten. Das betrifft vor allem Nahrungsmittel und Wasser, aber auch die medizinische Versorgung.
Der Regierung werfen einige Helfer vor, die tatsächliche Situation im Nordosten Nigerias verschleiert und Medien den Zugang zu den betroffenen Gebieten absichtlich erschwert zu haben. Der Guardian zitiert den ehemaligen Verantwortlichen der State Emergency Management Agency, Grema Terab, dem zufolge die Hungersnot das Ergebnis der »totalen Vernachlässigung und Fahrlässigkeit auf Seiten der Regierung« ist. Den Verantwortlichen sei die Dimension der Hungersnot klar gewesen. Dennoch hätten sie keinerlei Anstrengungen unternommen, einen geeigneten Plan zu erstellen. »Die Regierung entschied sich, das Thema der intern vertriebenen Menschen zu verdecken, weil sie Angst hatte, in ­dieser Sache angeklagt zu werden. Es herrschten seit langem absolute Gleichgültigkeit und die Weigerung, auf die Notlage der Vertriebenen zu reagieren, und deshalb gibt es in den meisten der Camps Hungersnöte«, sagte Terab dem Guardian. Die derzeit Verantwortlichen wiesen diese Vorwürfe zurück.
Inzwischen ist mehr als ein Jahr vergangen, seitdem Muhammadu Buhari als neuer Präsident Nigerias vereidigt wurde. Eines seiner wichtigsten Ziele war der verstärkte Kampf gegen die Islamisten von Boko Haram, und tatsächlich befindet sich die Terrormiliz derzeit in der Defensive. Doch die Aufforderungen der Regierung vom Anfang dieses Jahres an die Adresse der Flüchtlinge, in ihre Dörfer und Kleinstädte zurückzukehren, erwiesen sich als verfrüht. Noch immer gelingt es Boko Haram, Selbstmordanschläge zu verüben, wenn die Jihadisten auch die direkte Konfrontation mit den Regierungstruppen vermeiden. Nicht selten werden die Camps der Vertriebenen zum Ziel der Attentate.
Dabei attackieren die Terroristen auch die Versorgung der Hungernden. Erst Ende des vergangenen Monats mussten die UN ihre Hilfslieferungen in Borno zeitweise einstellen, weil Boko-Haram-Kämpfer einen Konvoi angegriffen hatten, der Nothilfsgüter ausgeliefert hatte und sich auf der Rückfahrt nach Maiduguri, der Hauptstadt des Bundesstaats Borno, befand. Selbst eine Militäreskorte konnte die Islamisten nicht daran hindern, den Konvoi zu attackieren und drei Zivilisten sowie zwei Soldaten zu verletzen.
Der Krieg im Nordosten Nigerias hat die lokale Nahrungsmittelproduktion zusammenbrechen lassen. Seit drei Jahren können die Felder nicht mehr bestellt werden, Märkte und Straßen sind wegen der Kämpfe geschlossen. Auch im angrenzenden nördlichen Teil von Kamerun sind Hunderttausende von Hunger bedroht.
Neben der jetzigen Notlage, die ein schnelles Eingreifen der Vereinten Nationen und der privaten Hilfsorganisationen erfordert, um eine drohende Katastrophe in der Region abzuwenden, wird immer deutlicher, dass die nigerianische Armee eine tiefgreifende Reform benötigt. Ein kürzlich veröffentlichter Bericht der International Crisis Group (ICG) stellt den Streitkräften ein miserables Zeugnis aus. Die 120 000 Soldaten starke Truppe sei für ein Land mit 160 Millionen Einwohnern unterbesetzt, die Soldaten seien schlecht ausgebildet und bezahlt, Korruption sei weitverbreitet und die Ausrüstung mangelhaft. Eines der schwerstwiegenden Probleme, so die ICG, sind die Menschenrechtsverbrechen, die von Teilen der Armee begangen werden.
Im Dezember vergangenen Jahres ereignete sich ein Massaker in der Stadt Zaria im zentralen Norden Nigerias. Eine von der Regierung eingesetzte Untersuchungskommission kam vor wenigen Tagen zu dem Ergebnis, dass das Militär für die Ermordung von 348 Schiiten verantwortlich ist. Sie sind in Nigeria eine Minderheit, die meisten Muslime folgen dem sunnitischen Glauben. Während nach offizieller Darstellung die schiitische Organisation Islamic Movement in Nigeria die Ermordung des Generalstabschefs Tukur Buratai plante, werfen diese und Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International der Armee vor, das Mas­saker ohne Provokation begangen zu haben.
So ist es kein Wunder, dass viele ­Nigerianerinnen und Nigerianer kein Vertrauen in die Armee und deren Angehörige haben. Wie eine Studie des Recherchenetzwerks Afrobarometer ergab, trauen gerade einmal 40 Prozent der Bevölkerung den bewaffneten Kräften. Auch die Polizei Nigerias schnitt schlecht ab: Lediglich 21 Prozent der Befragten gaben an, dass sie den Ordnungskräften vertrauen würden. Und das, obwohl wegen Sicherheits­bedenken in den drei nordöstlichen Bundesstaaten die Untersuchung gar nicht durchgeführt werden konnte. Vermutlich wären die Resultate noch schlechter ausgefallen. Ähnlich mi­serable Ergebnisse in der kontinentweiten Befragung weist lediglich Kenia auf.
Der Sicherheitsapparat wird von den meisten Nigerianern eher als Bedrohung denn als Schutz angesehen. Sein Niedergang hält nunmehr bereits Jahrzehnte an. Zwar verbessern sich seit dem Amtsantritt der neuen Regierung die Beziehungen zum Westen, der nunmehr wieder bereit scheint, das Militär finanziell und logistisch zu ­unterstützen. Doch es wird Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte dauern, das Militär so zu reformieren, dass es dem Krieg gegen die Islamisten gewachsen ist.
Das setzt allerdings einen entsprechenden politischen Willen voraus. Selbst wenn man Präsident Buhari zugute hält, persönlich integer und unkorrumpierbar zu sein, muss er mit staatlichen Institutionen regieren, die oft ineffektiv handeln und das Wohl­ergehen der Amtsinhaber über das Allgemeinwohl stellen. Der derzeitige niedrige Preis für Erdöl und Gas, die Haupteinnahmequellen des nigeria­nischen Staats, verringert den Spielraum für tiefgreifende Reformen ebenso wie der wieder aufflammende Konflikt im Niger-Delta.