Über den morbiden Untergrund von Neapel

Von Geistern und Ganoven

In Neapel finden sich allerorten Bilder und Statuen von Heiligen, vor denen selbst die Gangster der Stadt Respekt haben sollen. Darunter lagern in Krypten haufenweise Gebeine und Totenschädel, die manchmal sogar eigene Schreine bekommen. Ein Rundgang durch die morbide Stadt.

Dunkle Wolken verhängen den Himmel über Neapel. Vom Golf ziehen sie auf die Hänge des Vesuvs bis über die Festung Castel Sant’Elmo, vereinzelt steigen Feuerwerkskörper auf. »Nein, das Feuerwerk ist nicht Teil eines religiösen Festtags«, sagt Claudio, ein schlanker, bärtiger Mittdreißiger aus Norditalien. Er hat sich in der Dachetage eines alten, halbverfallenen Herrenhauses eingemietet, das umringt von leicht verwilderten Orangenhainen über dem Stadtteil Sanità thront und vor dessen Terrasse nun das gewaltige Naturspektakel aufzieht, untermalt vom fernen und durch den aufkommenden Wind kaum noch hörbaren Knallen der Feuerwerkskörper. »Da ist wohl eher einer aus dem Gefängnis entlassen worden, oder eine Ladung Drogen ist an­gekommen.« Mag sein, dass er Recht hat. Doch es heißt auch, Neapolitaner zünden gerne Feuerwerke wegen der Heiligen.
Heilige und Ganoven – sie scheinen sich diese Stadt zu teilen und ihre jeweiligen Geschäftssphären in frommem Einverständnis meist gegenseitig zu respektieren. Wenn nicht zu Ehren irgendeines Heiligen geböllert, trompetet oder in den Straßen getanzt wird, dann tut man es eben für einen Gangsterboss. Aber während die Bilder und Statuen der Heiligen das Straßenbild ebenso bestimmen wie zerfallende, ehemals prächtige Fassaden, Dreck, Schmutz und Lärm, muss man die Codes der Ganoven vermutlich kennen, um etwa die Graffiti in den verwinkelten Gassen der Quartieri Spagnoli einzuordnen.
Es heißt, der Glaube gehöre zu dem Wenigen, das die Ganoven dieser Stadt respektieren. So erzählt man sich noch heute die Geschichte des Dominikanermönchs Gregorio Maria Rocco, der im 18. Jahrhundert den damaligen Monarchen überredete, die Gassen der Viertel Sanità und Quartieri Spagnoli mit ­Öllampen auszuleuchten, um sie vor Straßenräubern sicherer zu machen. Das ließen sich Letztere nicht gefallen, sie zerstörten die neu aufgestellten Lampen wieder. Der listige Mönch ließ daraufhin entlang der Straßen kleine beleuchtete Heiligenschreine aufstellen. Sich an den Heiligen zu vergreifen, das wäre im tiefgläubigen Neapel undenkbar.
Jedenfalls gibt es auch heute keine noch so verwinkelte, zugepinkelte kleine Gasse, in der einem nicht mindestens eine Madonna entgegenlächelt oder irgendein Heiliger qualvolle Marter erleidet: San Gennaro, Januarius, zum Beispiel, der Schutzheilige der Stadt. Er soll auf den Schwefelfeldern von Pozzuoli geköpft worden sein, zur Zeit des römischen Kaisers Diokletian. So genau weiß man das nicht. Sein getrocknetes Blut wird in einer Phiole im Dom aufbewahrt. Dreimal im Jahr wird die Phiole als Teil eines Rituals vom Erzbischof öffentlich gedreht und gewendet, dann erscheint das Blut flüssig – das sogenannte Wunder des San Gennaro. Die zuschauenden Gläubigen drehen dann regelmäßig durch und küssen die Phiole. Schlimm sieht’s aus, wenn das Wunder ausbleibt und das Blut sich nicht verflüssigt. Ein ganz schlechtes Omen. Dann bricht in der Regel der Vesuv oder die Pest aus. Oder es gibt ein Erdbeben mit über 2 000 Toten, wie zuletzt 1980. Ob das Ausbleiben des Wunders auch dem jüngsten Erdbeben vorausging, das vergangene Woche mehrere Orte in Mittelitalien zerstörte und Hunderte Tote und Verletzte forderte, ist unklar. Es gibt Hypothesen, die versuchen das Wunder des Heiligenbluts wissenschaftlich zu erklären, aber die Kirche hat das dazu notwendige Öffnen der Phiole nicht erlaubt. Und das, obwohl sie das Wunder von San Gennaro selbst offiziell nie anerkannt hat. Vermutlich sind dafür unterschiedliche Stellen im Apparat zuständig.
Voller Schädel
Mit dem sogenannten Volksglauben hat die Kirche in Neapel ihre liebe Not. Denn nicht immer glauben die gläu­bigen Neapolitaner so, wie die katholische Kirche es gerne hätte. Als die Raumfahrt feststellte, dass im Himmel kein alter Mann mit Rauschebart residierte, geriet anderswo die Religion in eine existentielle Krise – in Neapel schien sich hingegen der institutionell legitimierte Glaube mehr Sorgen darüber zu machen, dass sich neben ihm kein anderer Aberglaube zu breitmacht. Anders lässt sich wohl kaum nachvollziehen, warum sich die lokale Kirche so dünnhäutig gegenüber der Volksreligion des Schädelkults verhielt. Noch aus der Zeit der ersten Christen Neapels, also aus der Zeit des geköpften San Gennaro im dritten Jahrhundert, stammt der neapolitanische Brauch, die Toten in unterirdischen Krypten zu bestatten. Es gibt sie überall in der Stadt, meist unter oder direkt an irgendeiner pompösen Kirche. Wenn die Gebeine vergammelt waren, wurden neue darübergelegt oder es wurden tiefere Krypten ausgehoben, wenn gar kein Platz mehr da war.
Aber manchmal, wenn Neapel wieder einmal von einer Pestepidemie geplagt wurde, kam man mit dem Ausheben nicht mehr nach, die Krypten waren völlig überfüllt. Während der großen Pest von 1656, an der in Neapel etwa die Hälfte der Einwohner gestorben sein soll, warf man die Gebeine aus Mangel an besserer Unterbringung in eine antike Tuffsteingrube – der heutige Friedhof Cimitero delle Fontanelle im Stadtteil Sanità. In der Bevölkerung bildete sind dann jener spezielle Aberglaube heraus, dass im Schädel eines Toten eine Verbindung zur Seele eines Verstorbenen im Fegefeuer existiere – den anime pezzentelle (bedürftige Seelen). Die Wurzeln dieser Vorstellung werden im vorchristlichen Kult der Hekate vermutet, der griechischen Göttin der Magie und Wächterin der Schwelle zwischen Dies- und Jenseits. Die arme Bevölkerung begann, die Schädel zu »adoptieren«, baute ihnen kleine Schreine und brachte ihnen Opfergaben in der Hoffnung auf kleine Wunder. Als lebte man noch in den Zeiten der Heiligen Inquisition, beschloss die katholische Kirche im Jahr 1969, dem Treiben ein Ende zu setzen, und ließ die inoffiziellen Kultstätten in den verschiedenen Krypten der Stadt schließen – teilweise wurden Schädel, die zu elaborierten Wandbilder aus der Renaissancezeit gehörten, sogar zerschlagen, der Cimitero wurde zugemauert.
Inzwischen ist der Cimitero wieder geöffnet, in ihm lagern die Gebeine unzähliger Pesttoter. Wie viele in dem grottenartigen Höhlensystem liegen, weiß niemand genau. Der Eintritt ist kostenlos. Die Knochen und Schädel sind kunstvoll aufeinandergeschichtet. Von den Besuchern trennt sie meist nur eine Kordel als Absperrung, wer wollte, könnte sie einfach anfassen. Manche Knochen liegen einfach in Haufen in der Ecke, einige Schädel stehen hingegen in eigens dafür gefertigten kleinen Vitrinen. Besonders potente Schädel, denen offenbar große Kräfte zugesprochen werden, sind mit allerlei Opfergaben überhäuft – Münzen, Puppen, Spielzeugautos, Teddybären. Vor anderen liegt nur ein gekreuztes Paar Zigaretten.
Die Toten feiern
Es ist auffällig, wie katholisch geprägte Gesellschaften häufig zwischen ­dieser kultischen Morbidität und einer bei Protestanten meist vermissten, ja schmerzlich ausgetriebenen Lebensfreude changieren. Denn allem Elend und Aberglauben zum Trotz – Lebensqualität kann man Neapel schlecht absprechen. Diese Stadt hat etwas, das man anderswo vergeblich sucht. Das globalisierte Plagiat der neapolitanischen Pizza kam einfach nie an das Original heran, nicht einmal im restlichen Italien. Der teure Espresso aus der obligatorischen italienischen Espressomaschine unzähliger Hipster-Bars, wie man sie überall in Europa inzwischen findet, kann mit dem dickflüssigen Espresso-Shot einer beliebigen Kneipe Neapels nicht mithalten. Was anderorts als sfogliatelle verkauft wird, süßes Blätterteiggebäck, käme in Neapel wohl in den Hundenapf, schon weil es hier mit Ricotta-Käse und kandierten Orangen gefüllt wird statt mit Nutella.
Apropos Europa – man fühlt sich in Neapel nicht, als sei man überhaupt noch dort. Er erinnert eher an wie in Mexiko. Neapel war etwa im selben Jahrhunderte währenden Zeitraum Teil des spanisch-habsburgischen Weltreichs wie weite Teile Nord- und Südamerikas. Die Parallelen sind nicht nur in der Architektur zu finden. Schädel und Gebeine kennt man auch aus der mexikanischen Populärkultur: die calaveras, die verzierten Schädel, die Zeichnungen tanzender Toter sowie das Begehen des Feiertags Allerheiligen als Día de los Muertos, als Tag der Toten, der zwischen dem 31. Oktober und 2. November gefeiert wird. Auch dort werden den Toten Opfergaben hinterlegt, aber ohne den Hintergedanken, etwas dafür zu bekommen. Zigaretten gibt es für den Onkel, der leidenschaftlich rauchte, bis ihn der Lungenkrebs dahinraffte. Die katholische Kirche begeht ihren Totengedenktag, Allerseelen, am 2. November.
Allerheiligen ist auch in Neapel ein bedeutender Feiertag – einer unter vielen. Hier gibt es wiederum eine Verbindung zum Schutzheiligen der Stadt: Tote haben Schädel, San Gennaro hat seinen abgeschlagen bekommen – da muss es doch irgendeinen tieferen Zusammenhang geben.
Ein Blitz durchzuckt den inzwischen völlig von schwarzen Wolken verdeckten Himmel, dicht gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donnerknall. Als wollten die Geister den Ganoven sagen: »Euer putziges kleines Feuerwerk könnt ihr jetzt einpacken!« Aber weil die Ganoven trotzdem nicht aufhören und immer noch der eine oder andere Feuerwerkskörper im heftiger heulenden Wind aufsteigt, öffnen die himmlischen Mächte fünf Minuten später ihr Schleusentor, tränken die ganze Stadt für den Rest der Nacht in schier endlosem Regen und schicken noch ein paar Blitz- und Donnerschläge hinterher. Dabei peitscht der Wind um die alten Mauern des Herrenhauses, als wollte er es gleich einreißen. So viel zum Aberglauben.