Der neue Roman von Christian Kracht

Symbole statt Dinge

Mit »Die Toten« ist Christian Kracht ein kurzweiliger Roman über die Filmindustrie der Jahre vor dem Nationalsozialismus gelungen.

Keine Buchveröffentlichung ohne Social-Media-Kampagne – so auch bei »Die Toten«. Es ist zwar kaum vorstellbar, dass Christian Kracht sonst viel Zeit auf Instagram verbringt, aber nun bespielte er sieben Tage lang den Account seines Verlages Kiepenheuer & Witsch. Ein Post pro Tag, um Gottes Willen kein Output-Overkill. Und alles schön kryptisch: »Symbols are more meaningful than things themselves«, war dort zu lesen. Der Satz stammt von der US-amerikanischen Künstlerin Jenny Holzer. Man sieht Kracht vor sich, wie es ihm diebische Freude bereitet, solche Fährten zu legen, nachdem bereits so viel über »Die Toten« spekuliert wurde.
Da fragte Denis Scheck in seiner Sendung »Druckfrisch«, irgendwo im grellen Sonnenlicht über den Hügeln Hollywoods am neuen Wohnort des Schriftstellers und seiner Familie, allen Ernstes, ob Kracht bei der Zeichnung seines Protagonisten, eines fiktiven Regisseurs, eigene Gefühle einfließen ließ. Geht es Kracht wie Nägeli, der an Altersmüdigkeit, Haarausfall, Erschlaffung des Körpers, Zerfall leidet? Was Kracht höflich verneint und stattdessen mit einem Hinweis auf seine Aversion gegen sportliche Betätigung jeglicher Art sympathisch kommentiert.
Es mutet putzig an, wenn Journalisten eine Interpretation des Buches von Kracht einfordern, der sich als Sphinx des Literaturbetriebs natürlich wohlweislich nicht in diese Niederungen herablässt. Wozu gibt es Germanistikseminare? Eines steht fest: Es gibt keinen Skandal wie 2012, als Spiegel-Autor Georg Diez Krachts Roman »Imperium« Nähe zu rechtem Gedankengut unterstellte.
Kracht hat seine Geschichte dieses Mal im Filmgeschäft der dreißiger Jahre zwischen Berlin, Tokio und Los Angeles angesiedelt. Im Mittelpunkt steht der Regisseur Emil Nägeli, ein Mann, dem »eine gesunde Skepsis gegenüber festgefügten Weltbildern zu eigen« ist und der gezeichnet wirkt von einem übermächtigen Vater, der 45 Jahre lang nur schlecht als Humor getarnte Grausamkeit an ihm ausließ.
Das Setting ist interessant, der Film erlebte in dieser Ära eine frühe Blütezeit in Deutschland, die mit der Emigration renommierter Regisseure wie Josef von Sternberg, Otto Preminger und Billy Wilder ein jähes Ende nahm. Kracht erzählt von den Eskapaden, die Nägeli im flamboyanten Berlin vor der Machtergreifung der Nazis mit den Filmjournalisten Lotte Eisner und Siegfried Kracauer erlebt, bis die beiden Juden zur Flucht in der Eisenbahn nach Paris gezwungen werden: »Im sich verdunkelnden Speisewagen nehmen sie Abschied von ihrem Deutschland.« Am Tisch gegenüber Fritz Lang, der mit einer Kopie von »Das Testament des Dr. Mabuse« in der Tasche ebenfalls ins Exil geht.
Dann tritt der mysteriöse Masahiko Amakasu auf, Kulturbeauftragter im Dienste Japans, wie Nägeli von einer qualvollen Kindheit geprägt. Er macht dem Leiter der Ufa-Filmproduktion den größenwahnsinnigen Vorschlag, eine »zelluloide Achse« zwischen der deutschen Hauptstadt und Tokio zu schmieden. So weit, so absurd. Nägeli reist mit seiner Geliebten Ida von Üxküll also nach Tokio, wo dieses irre Ansinnen selbstverständlich scheitert, während die Blondine eine Affäre mit Amakasu anfängt, was Nägeli – Norman Bates in der berüchtigten Schrankszene in »Psycho« lässt grüßen – beobachtet.
»Die Toten« wirft nonchalant einige interessante filmtheoretische Fragen auf, ohne jedoch Antworten zu liefern: So wird zu Beginn eine brutale Szene, in der ein Mann stirbt, ästhetisiert, als stamme sie von Taran­tino: Da gleitet die Klinge durchs weiche Gewebe in die Eingeweide und eine Blutfontäne spritzt seitwärts zur unendlich zart getuschten Bildrolle hin. Was Kracht interessiert, deutet er im Fernsehinterview an: Liegt eine moralische Verantwortung beim Produzenten oder dem Rezipienten von Gewalt im Film? Eine Frage, die der Leser selbst beantworten muss.
Man ist von diesem Text schnell eingelullt und bleibt es bis zum letzten Wort. Vielleicht geht es Kracht ja um dasselbe, was der glücklose Regisseur Nägeli in seinem Film »Die Windmühle« anstrebt, eine »einfachen Geschichte aus einem kargen Schweizer Bergdorf«: Der Versuch einer Definition des Transzendenten, des Spirituellen, »mit den Mitteln der Filmkunst innerhalb der Ereignislosigkeit das Heilige, das Unaussprechbare aufzuzeigen«? Keinesfalls, widerspricht der Autor auch hier im »Druckfrisch«-Interview. Nein, das Heilige wolle er nicht erreichen. Das sei zu weit weg.
Christian Kracht: Die Toten. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016, 212 Seiten, 20 Euro