Die Euphorie angesichts des Kanzlerkandidaten Martin Schulz ist unangebracht

Vom Vollbluteuropäer zum Gottkanzler

Was von einem Bundeskanzler Martin Schulz zu erwarten wäre, lässt sich schnell zusammenfassen: Sozialkürzungen, Standortnationalismus und ein Mangel an diplomatischem Taktgefühl.

»Alle Kinder tragen einen Batman-Schlafanzug, außer Batman, der trägt einen Martin-Schulz-Pyjama.« Diesen Satz konnte man jüngst auf Twitter ­lesen. Nun könnte man einfach sagen: Kinder sind offenbar klug, wenn sie einen Batman-Schlafanzug und keinen Martin-Schulz-Pyjama tragen. Doch so sieht der Schulz-Hype eben aus, der zurzeit grassiert. Seit Martin Schulz Ende Januar zum Kanzlerkandidaten der SPD erkoren wurde, verzeichnet die Partei Tausende neuer Mitglieder, ihre Popularität in Umfragen wächst. Die Sozialdemokraten, die sich zeitweise Sorgen machen mussten, ob sie überhaupt noch ein Fünftel der Wählerstimmen gewinnen können, liegen mittlerweile zwischen 29 und 32 Prozent – und damit fast gleichauf mit der Union. ­Begleitet wird dieser Aufschwung von einer Euphorie in den sozialen Medien angesichts des »Gottkanzlers Schulz«: In Tausenden Memes, Tweets und Witzen wird der ehemalige Bürgermeister von Würselen gleichermaßen ironisch wie hysterisch überhöht. Auf der Website der SPD findet sich ein Plakat, dass Schulz im Stile der Obama-Kampagne von 2008 zeigt, nur dass dort statt »HOPE« das Kürzel »MEGA« zu lesen ist. »MEGA« steht dabei nicht für die Marx-Engels-Gesamtausgabe, sondern für »Make Europe Great Again«.
Schulz, der »Vollbluteuropäer« (FAZ), saß zweieinhalb Jahrzehnte für die SPD im Europaparlament, zuletzt als dessen Präsident. Selbstverständlich muss diese Karte gespielt werden. Europa wollen die Sozialdemokraten positiv besetzen – nachdem sie 1914 mit der Billigung der Kriegskredite ihren Beitrag zur negativen Besetzung geleistet hatten. In seiner ersten Rede als designierter Kanzlerkandidat ließ Schulz dementsprechend wissen: »Mit mir wird es kein Europa-Bashing geben.« Warum sollte es auch? Der europäische Binnenmarkt liegt im nationalen Interesse Deutschlands, also auch im Interesse der SPD. Diesen Markt hat sie einst mühsam erobert: erst mit dem Euro, der gute Exportbedingungen ohne Währungsschwankungen mit sich brachte, dann mit der Agenda 2010, mit der sie die benachbarten Volkswirtschaften niederkonkurrierte. Mit Leih- und Zeitarbeit, Lohndrückerei und Hartz IV machte die SPD die Produktion am hiesigen Standort günstig. Das Exportgeschäft floriert weiterhin. Schulz lässt derzeit wissen, die Agenda 2010 sei »die richtige Antwort auf eine Phase der Stagnation« gewesen. Das ist nicht einfach nur eine fatale Bewertung der Vergangenheit, sondern auch eine Drohung für die Zukunft: In der nächsten Phase der Stagnation wird ein möglicher Kanzler Schulz wieder erhebliche Sozialkürzungen im Interesse von Kapital und Standort in Betracht ziehen.
Da es dank der Agendapolitik recht wenig Aussicht auf eine erhöhte Binnennachfrage gibt, dürfte die nächste Stagnation drohen, wenn das Exportgeschäft einbricht. Dazu könnte es schon bald kommen. Als Politiker in Großbritannien über die Modalitäten des Austritts aus der Europäischen Union nachdachten, machte Schulz deutlich, dass das Vereinigte Königreich nur einen besonderen Zugang zum EU-Binnenmarkt erhalten könne, wenn die Arbeiternehmerfreizügigkeit erhalten bleibe. Diese Haltung bewegte Theresa May dazu, einen »harten Brexit« anzukündigen. Sollte der Front National die französische Präsidentschaftswahl gewinnen, könnte Frankreich aus dem Euro ausscheiden. Falls es nicht für Marine Le Pen reicht, könnte die deutsche Agendapolitik von ihrem Kontrahenten Emmanuel Macron kopiert werden. Beides wäre schlecht für den deutschen Außenhandel. Überdies setzen die USA unter Donald Trump nun auf den Protektionismus, was die Situation nicht einfacher macht. Die krisengeschüttelten Länder Südeuropas können das ohnehin nicht ausgleichen, da Deutschland dort auf der Austeritätspolitik besteht, die Schulz und die SPD in Europa durchzusetzen halfen.
Die nächsten sozialdemokratischen Sozialkürzungen sind im Fall eines Wahlsiegs also absehbar. Das hindert Schulz jedoch nicht daran, regelmäßig von den »hart schuftenden Menschen in diesem Lande« und sozialer Gerechtigkeit zu reden. So etwas kommt gut an beim sogenannten kleinen Mann. Der soll nämlich lieber die SPD als die AfD wählen. Vor den Rechten und ihrem »blinden Nationalismus« warnt Schulz unablässig. Tatsächliche Probleme mit Nationalismus hat Schulz nicht – das zeigt seine Europapolitik für den Standort genauso wie die Flüchtlingspolitik seiner Partei. Seit 1993 war die SPD wiederholt an Verschärfungen des Asylrechts beteiligt. Die Europäische Union sorgte mit Dublin II, Frontex, der Abschaffung der Seenotrettung im Mittelmeer und Sperranlagen dafür, dass es kaum Flüchtlinge nach Deutschland schaffen – während Schulz Abgeordneter im EU-Parlament und dessen Präsident war. Kommen Flüchtlinge doch in die Bundesrepublik, weiß die SPD stets, ihnen das Leben gehörig zu erschweren – oder sie schließlich doch abzuschieben. Wenn weniger Flüchtlinge in Deutschland aufgenommen werden sollen, dürfte ein Bundeskanzler Schulz viel diplomatisches Gespür brauchen, um südosteuropäische Regierungen davon zu überzeugen, die Drecksarbeit zu erledigen. Angesichts seiner Rede vor der israelischen Knesset im Jahr 2014, in der er unter anderem die palästinensische Lüge vom israelischen Wasserklau verbreitete, erscheint fraglich, ob er zu diplomatischen Feinheiten fähig ist.