Andrew Culps Essay »Dark Deleuze«

Gilles, ich will ein Kind von dir, und es soll Dark heißen

In seinem fulminanten Essay »Dark Deleuze« beschuldigt Andrew Culp den französischen Theoretiker, er habe den Hass auf den Kapitalismus besänftigt. Ein Gegenmittel zur Affirmation der Verhältnisse kennt der junge US-amerikanische Medientheoretiker auch. Er findet es ausgerechnet im Werk des Philosophen.

Der Supermarkt spricht mit dem Kühlschrank spricht mit der Krankenkasse spricht mit dem Fitnessarmband spricht mit der Bundesregierung spricht mit dem Boss. Konnektivität nennt der US-amerikanische Medienwissenschaftler Andrew Culp das. Das Wort beschreibt die Integration von Menschen und Dingen durch digitale Technologien. Doch damit nicht genug: Die Chefin schreibt auf allen Kanälen. Der Freund auch. Und wenn eine Antwort ausbleibt, obwohl die »Gelesen«-Häkchen blau leuchten? Beziehungsstress. Konnektivität ist auch und vielleicht primär ein sozialer Zusammenhang. Konnektivität ist eine die Gegenwart beherrschende Einstellung. Konnektivität ist schließlich, philosophisch ­gesprochen, die Bewegung, alles mit allem zu verbinden – und so eine Welt zu werden.

Deleuzes Werk mit seinem Konzept des Rhizoms, der minoritären Literatur und der Deterritorialisierung 
ist in den letzten Jahrzehnten zum Referenzpunkt linker akademischer Debatten nach den »großen Erzählungen« (Jean-François Lyotard) aufgestiegen. 

Werden war das große Thema des französischen Philosophen Gilles Deleuze (1925–1995). Werden hat mit Unterschieden zu tun. In einer ­Rezension von Deleuzes Buch (1968) »Differenz und Wiederholung« schrieb Michel Foucault, dass »eines Tages das Jahrhundert vielleicht ­deleuzianisch sein« werde. Das schien 1970 so freundlich wie voreilig ­formuliert. Foucaults eigener Ruhm überstrahlte lange Zeit den des ein Jahr älteren Kollegen. Was aber, wenn Foucault sich einen Scherz auf Kosten des Freundes erlaubt hatte? So ­zitiert »Differenz und Wiederholung« bereits in der Einleitung Friedrich Nietzsches »Zweite unzeitgemäße Betrachtung«. Unzeitgemäß zu sein, schrieb der deutsche Philosoph 1874, »das heißt gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zugunsten einer kommenden Zeit« zu wirken.
Dass es sich bei Foucaults damaliger Bemerkung um eine Spitze gegen Deleuze gehandelt haben könnte und dass dessen Denken inzwischen aber allemal zeitgemäß geworden ist, dies legt das schmale Buch »Dark Deleuze« nahe, das gerade im Laika-Verlag erschienen ist. Darin argumentiert Culp, dass Deleuzes Philosophie der Bejahung, der Verbindung und der Kreation im Zeitalter von verpflichtender Freude, obligatorischem Networking und Kreativitätszwang bei fortgesetzter Armut, Ausbeutung und Unterdrückung ihren eman­zipatorischen Impuls verloren habe. Vielmehr seien deren psychosoziale Folgen wie Burn-out und Depression zur Signatur unserer Zeit geworden. Tatsächlich ist Deleuzes Werk mit seinem Konzept des Rhizoms, der minoritären Literatur und der Deterritorialisierung in den vergangenen Jahrzehnten zum Referenzpunkt linker akademischer Debatten nach den »großen Erzählungen« (Jean-François Lyotard) aufgestiegen. Dabei ist es teilweise selbst zu einer solchen Erzählung geworden. Dass Deleuze auch von Militärberaterinnen, in Werbeagenturen und Internetunternehmen gelesen wird, ist ein schlechtes philosophisches Argument gegen ihn, als Symptom aber aufschlussreich.
Culp will mit dem Werk so verfahren, wie es Deleuze selbst im Umgang mit anderen Autoren empfohlen hatte. Dieser schrieb über seine ­Methode der Rezeption in seinem »Brief an einen strengen Kritiker«: »Ich stellte mir vor, einen Autor von hinten zu nehmen und ihm ein Kind zu machen, das seines, aber trotzdem monströs wäre. Daß es wirklich seins war, ist sehr wichtig, denn der Autor musste tatsächlich all das sagen, was ich ihn sagen ließ.«
In der Bearbeitung Culps trägt dieser Nachfahre den Vornamen »Dark«. Wie Deleuze es vorgemacht hat, durchstöbert Culp die Texte des Philosophen nach Verschiebungen, Brüchen und bezeichnenden Auslassungen. Das gern zitierte, aber selten diskutierte sprachliche Bild der philosophischen »Arschfickerei« (Deleuze) wird nachvollziehbar, wenn man weiß, worauf Deleuze es anwendet. Es geht um die Zurichtung der Philosophiegeschichte, die das Denken in Filiationen großer Autoren zwingt und es dadurch – so drastisch formuliert es Deleuze – ermordet. Dieser Zurichtung suchte Deleuze sich zu erwehren, auch wenn er zum Zeitpunkt der Niederschrift des Briefs bereits zu anderen Schreibweisen übergegangen war, wohl, weil auch ein monströser Bergson oder Kant letzlich doch in den durch die Philosophiegeschichte erzwungenen Abstammungen befangen bleiben musste. Culps Gegner wäre jedenfalls nicht so sehr Deleuzes Philosophie selbst, sondern das, was Philosophiegeschichte und nicht zuletzt Bewunderer aus ihr gemacht haben. Aus ihrer Umarmung muss Deleuzes Denken offenkundig erst einmal zur Sichtbarkeit entstellt werden – und vielleicht bleibt Culp selbst gerade in dieser Absicht der Deleuze-Philologie noch allzu sehr verpflichtet.
Entscheidend ist eine Umbesetzung, die Culp vornimmt. Ins Zentrum seiner Überlegungen stellt er nicht die Freuden des Werdens, sondern die Kultivierung des Hasses auf die Welt. In den gemeinsamen Arbeiten von Deleuze und dem kritischen ­Psychiater Félix Guattari findet er die Einsicht formuliert, die dafür eine Begründung liefert: Der Kapitalismus ist das System der Autoproduktion des Realen par excellence. Kapitalismus – als ein sich selbst unablässig erweitert wiederherstellendes System – und Welt werden zumindest der Tendenz nach ununterscheidbar. Das unterstellt letztlich alles dem Dikat der Warenform. Paradoxerweise wird damit trotz unausgesetzter Vervielfältigung jedes Werden ausgelöscht. Die immer schrilleren Anrufungen des Neuen in der Kunst wie in der Werbung sind Ausdruck dieser Auslöschung. Möglicherweise stößt hier der Kapitalismus an eine innere Grenze. Seine Dauerkrise könnte dafür Indiz sein.

In seinem Beharren auf dem Hass hat auch Culps Buch etwas Totalisierendes. Bei näherer Betrachtung zeigt es sich allerdings als eine vielgestaltige Anhäufung von Gedanken, Referenzen, Fremdwörtern und polemischen Spitzen. 

Was auf diese Krise folgt, ist nicht ausgemacht. Deshalb handelt es sich bei »Dark Deleuze« um eine Einladung zur Verschwörung. Sie richtet sich an die Linke. Diese stellt angesichts der Katastrophe der Ununterscheidbarkeit von Kapitalismus und Welt ihre Selbstbeschränkung auf eine Kritik der Verhältnisse, wie radikal sie auch ausfallen mag, in Frage. Damit droht sie sich jedoch zugleich den Machbarkeitsimperativen derselben Verhältnisse zu unterwerfen. Eine Welt, die allein aus Vorgefun­denem gebaut ist, muss der alten ähneln. Culps Linke ist eine gesellschaftliche (gegen den Do-It-Yourself-Fetisch) und außerparlamentarische (gegen den Reformismus). »Dark Deleuze« ist die beizeiten grobe Erinnerung, dass es ganz ohne gepflegten und daher zu pflegenden Hass auf die Verhältnisse nicht zu ihrer Überwindung kommen wird.
Dass Culps Buch keine Spiegelung des gängigen Deleuze-Bildes geworden ist, verdankt sich seiner Methode: Für die den Texten Deleuzes entnommene Denkaufgabe stellt er jeder »freudvollen« (dem Deleuze-Dogma entsprechenden) Antwort eine »dunkle« Variante gegenüber. Dabei geht es Culp allerdings nicht um die korrekte Entsprechung der Begriffe. Angesichts der Verhältnisse will er im Denken Verschiebungen bewirken, in dem Bewusstsein, dass auch diesen immer droht, ihre Wirkung einzubüßen. Das klingt zum Stichwort Ethik so: »Konspirativer Kommunismus, nicht prozessuale Demokratie«. Oder zum Subjekt: »Nicht-Werden, keine Assemblagen«. Darin steckt ein Verständnis davon, dass das Verhältnis zwischen Theorien und Politik komplex ist. Und eben daraus folgt die Einsicht, dass es manchmal der Entscheidung für die strategischen Vorzüge asymmetrischer Auseinandersetzungen im Sinne eines Guerillakriegs dringlicher bedarf als des vielleicht korrekten, aber bedeutungslosen Feststellens unendlicher Komplexität. Das Ziel bleibt, in der Welt Fluchtlinien zu folgen, die nicht in ihr aufgehen und die es so ermöglichen, in ihr einen Unterschied zu machen.
Dieser Bezug auf die Welt unterscheidet »Dark Deleuze« von der Tradition des Hegelmarxismus. Gegen deren Denken richtete sich Deleuzes Philosophie, weil es die Differenzen in der dialektischen Bewegung ­aufhebt. Vor diesem Hintergrund ist bemerkenswert, wie sich ein dunkler Deleuze – das von Jose Rosales verfasste Nachwort der deutschen Ausgabe merkt das an – den Zentral­begriffen dieser Denktradition wie »Totalität« und »Negation« annähert. Das komplizierte Verhältnis zwischen Affirmation und Negation in der Philosophie Deleuzes hat bereits der Philosoph Benjamin Noys in seinem Buch »The Persistance of the Negative« von 2010 untersucht. Wichtig ist Culps Insistieren, dass es sich beim Hass auf die Welt nicht um ein Ressentiment handelte, in das die Negation, zumal eine allgemein vorgebrachte, leicht verfällt. Er bestimmt den zu kultivierenden Hass dagegen als ambivalentes, aber notwendiges Komplement zur Liebe zur Welt, die Deleuze mit seiner Philosophie feiert. Anders gesagt: Wer die Welt nicht hasst, liebt sie nicht genug. 
»Dark Deleuze« wird so auf kuri­ose Weise zu einem Gegenstück zum ebenfalls zuletzt in deutscher Übersetzung erschienenen »Manifest der Gefährten« der US-amerikanischen Feministin Donna Haraway. In ihrem Essay schärft die Autorin, die Anfang der Achtziger mit ihrem »Manifest für Cyborgs« berühmt wurde, den Blick für die so grundlegenden wie konkreten Verflechtungen menschlichen Lebens mit dem anderer Organismen anhand des Zusammenlebens von Hunden und ihren Halterinnen. Dabei liegt ihr Augenmerk, im Unterschied zur Ideologie der Konnektivität, auf den notwendig gewaltvollen und ungleichen Dimensionen dieser Verflechtungsgeschichte, denen gerecht zu werden erst das gute Zusammenleben erlaubt. So geht es bei Culp wie bei Haraway im Kern um eine Politik des Anderen als Ausgangspunkt einer emanzipatorischen Bewegung und damit um eine andere Politik als solche.
Eine differenzierte Bestimmung des Zusammenhangs von Konnektivität (Culp) oder bio-techno-politischer Verflechtung (Haraway) einerseits und kapitalistischer Vergesellschaftung andererseits legen die beiden gut 100seitigen Bände nicht vor. Deleuzes vielzitiertes »Postskriptum über die Kontrollgesellschaft«, das bei Culp keine Erwähnung findet, liefert Hinweise für eine solche Analyse. In dem kleinen, an Foucaults Konzeption der Disziplinargesellschaft orientierten Text versuchte Deleuze nach dem scheinbaren Sieg des neoliberalen Kapitalismus 1990 noch einmal die Situation zu erfassen. Dafür setzte er neu entstehende Arbeits- und Lebensweisen ins Verhältnis zur umfassenden Neuordnung der kapitalistischen Produktion. Im Zuge der Verlagerung der Warenproduktion an die Peripherie werde in den kapitalistischen Zentren jeder zum »Geschäftsführer«, wie Deleuze fast schon altmodisch schrieb. Der Soziologe Ulrich Bröckling hat diesen Subjekttyp das »unternehmerische Selbst« genannt. Deleuze und Guattari stellen in ihrem noch von den anarchischen Impulsen der Pariser Mai-Revolte geprägten Bestseller »Anti-Ödipus« von 1972 die Befreiung der Wünsche aus der Triangulation durch das ödipale Dreieck der Familie gegen die Zurichtungen durch den fordistischen Kapitalismus. In Interviews betonte Guattari die militante Orientierung des Buchs. 
Heute zeigt sich der »Anti-Ödipus« als frühe und pointierte Analyse der Produktivität, der Veränderlichkeit wie des Beharrungsvermögen des Kapitalismus im 20. Jahrhundert. Die Hoffnung, den Kapitalismus in seinen Auflösungstendenzen über sich hinaustreiben zu können, hat sich nicht erfüllt. Sie ist vom konnektivistischen Kapitalismus offenkundig eingeholt und vielleicht bereits wieder verabschiedet worden. Im Vergleich zu den vor 40 Jahren von Deleuze und Guttari mit einiger Sprachmacht entworfenen Wunschmaschine nimmt der sich allerdings reichlich trist aus. Das unternehmerische Selbst ist nichts anderes als das bis zum Verrecken konstruktive Selbst der Konnektivität. 
Deleuze wies 1990 bereits auf einen Aspekt dieser Lebensweise hin, welcher der soziologischen Diskussion über die Kreativität lange entgangen ist: Ein radikal in die Selbstverantwortung entlassenes Subjekt ist im Kapitalismus, an dessen Verwertungszwängen die Selbstverantwortlichkeit letztlich immer scheitern muss, ein moralisch schuldiges wie ökonomisch verschuldetes Subjekt. Der Theoretiker Maurizo Lazzarato hat diesen Umstand, den das Platzen von Dotcom- und Immobilienblase vorgeführt hat, in seinem Buch »Die Fabrik des verschuldeten Menschen« (B_Books 2012) herausgearbeitet. Deleuze betont auf den letzten Seiten seines Textes, dass auch der Kapitalismus der Kontrollgesellschaft ob der ihm innewohnenden Bewegungsgesetze Ausgeschlossene produzieren wird, »zu arm zur Verschuldung und zu reich zur Einsperrung«. Er ruft hier also gerade kein neues Paradigma aus, wie es einige, die sich gerne auf ihn beziehen, in der Debatte über immaterielle Arbeit, tun, um die »Wissensarbeiterin« daraufhin zum neuen revolutionären Subjekt zu verklären.
In seinem Beharren auf dem Hass hat auch Culps Buch etwas Totalisierendes. Bei näherer Betrachtung zeigt es sich allerdings als eine stattliche Anhäufung von Gedanken, Referenzen, Fremdwörtern und polemischen Spitzen. Achim Szepanskis direkte Übertragung aus dem amerikanischen Englisch bewahrt diesen Charakter dankenswerterweise. Und der Autor ist klug genug, immer wieder auf nötige Differenzierungen zu verweisen. »Dark Deleuze« antwortet mit einer Verspätung von 16 Jahren auf die Frage, die Deleuze ans Ende seines »Postskriptums« stellte: »Lassen sich schon Ansätze dieser künftigen (Widerstands-)Formen sehen, die in der Lage wären, die Freuden des Marketings anzugreifen?« 
Nicht allen Ansätzen wird man folgen wollen. Jedoch liefert das Buch irritierende Einsichten, die durch weiterführende Lektüre zu vertiefen wären. Das Anmerkungs- und Quellenverzeichnis gibt dazu Anregungen. Es enthält neueste Texte des Feminismus, der Ökologie, der Medientheorie (»We Are All Very Anxious«, »Queer Theory and the Death Drive« oder »Cannibal Metaphysics«) für all jene, die die Welt als Katastrophe verstehen lernen wollen. Das vielfach verkündete Ende der Theorie ist jedenfalls nicht in Sicht. 

Andrew Culp: Dark Deleuze. Aus dem amerikanischen Englisch von Achim Szepanski. Laika-Verlag, Berlin 2017, 120 Seiten, 11 Euro