Frankreichs Atomarsenal ­bietet Anlass zur Beunruhigung

30 harmlose Vorfälle

Frankreichs Atomanlagen sind leicht verwundbar. Dutzende Überflüge von Drohnen in den vergangenen Jahren und mögliche Terroranschläge bieten Anlass zur Beunruhigung.

Emmanuel Macron, der neue Präsident Frankreichs, eilt von einem Sieg zum nächsten. Mit einer deutlichen parlamentarischen Mehrheit ausgestattet, sollte er nun auch zielstrebig regieren können. Ihn und seine Regierung erwartet eine beachtliche Liste von Problemen, die sie von ihren Vorgängern geerbt haben: Jugendarbeitslosigkeit, terroristische Bedrohung, wachsender Rechtsextremismus, sinkende ökonomische Wettbewerbsfähigkeit, gefährdete Banken, hohe Staatsschulden und eine völlig verfahrene Energiepolitik. Da fällt eine Serie von sicherheitsrelevanten Ereignissen, die irgendwann einmal aufgeklärt und abschließend bewertet werden müssen, kaum ins Gewicht. Doch sie verweist auf ein übergeordnetes französisches und europäisches Thema.

Im Oktober und November 2014 wurden zwei Drittel aller französischen Atomkraftwerke insgesamt 30 Mal von Drohnen überflogen. Auch das Pariser Commissariat à l’Energie Atomique (CEA), die Wiederaufarbeitungsanlage in La Hague, eine Plutoniumfabrik in der Provence und die Marinebasis für Atom-U-Boote in der Bretagne gehörten zu den Zielen der rätselhaften Aktivitäten im Luftraum. Unternehmen und Behörden spielten die Vorfälle herunter, weil derart kleine Flugobjekte den Reaktoren nichts anhaben könnten. De facto standen sie der Provokation hilflos gegenüber. Nicht einmal Armeehubschrauber konnten eine Drohne abfangen; einige wenige Festnahmen von Verdächtigen erwiesen sich als unbegründet, die Fälle sind offen geblieben. Weder über die Verantwortlichen noch über ihr Motiv gibt es belastbare Erkenntnisse. Über die Sicherheit der französischen Atomanlagen ist damit ziemlich viel gesagt.

Eine etwas konkretere Beobachtung steuerte ein Zeuge bei, der einen Drohnenflug über dem AKW Golfech im französischen Südwesten beobachtet haben will. Seine Aussage, das Objekt habe nicht so ausgesehen wie die Produkte, die man im Handel erwerben kann, sondern sei größer gewesen und habe eine längliche Form gehabt, war ein gefundenes Fressen für einschlägig interessierte Kreise: ein unidentifiziertes Flugobjekt, ein UFO! Der Direktor des Atomkraftwerks Blayais nahe Bordeaux, Pascal Pezzani, schloss sich dieser These in seinem Jahresrückblick für 2014 ausdrücklich an: »Es handelt sich um ein UFO, nicht um eine Drohne«, zitierte ihn die Zeitung Sud Ouest im Januar 2015. Um die geistige Befindlichkeit von Verantwortungsträgern in der Atomwirtschaft scheint es nicht sehr gut bestellt zu sein.

Greenpeace hat die Vorfälle zum Anlass genommen, eindringlich vor der Anfälligkeit von Atomanlagen gegenüber terroristischen Angriffen zu warnen. Der Gedanke ist naheliegend, allerdings tragen der hohe Grad an Koordination, die technische Versiertheit und die professionelle Spurenvermeidung nicht die Handschrift des »Islamischen Staats« (IS). Da müsste ein anderer Typ von Terrororganisation am Werk gewesen sein – falls die Überflüge etwas mit der Vorbereitung eines Anschlags zu tun haben. Deren Dramaturgie – ein Überflug, dann noch einer, dann mehrere gleichzeitig und hintereinander – lässt auch an einen Erpressungsversuch denken.

Atomanlagen sind terroristische und selbstverständlich auch militärische Ziele. Sollte eine gut organisierte Gruppe die französischen Nukleareinrichtungen systematisch abgelichtet haben – denn das war mit Sicherheit ein Zweck der Übung –, haben Armee und Geheimdienste derartiges schon lange vorher unternommen. Atomanlagen des Feindes auszuspionieren, zu fotografieren und zu vermessen gehört zu ihrem Job. Im Falle eines Kriegs bieten sie einem Angreifer gleich mehrere Vorteile: Eine Nuklearkatastrophe richtet gewaltige Schäden an, verbreitet Angst und Schrecken in der Bevölkerung und bindet staatliche Ressourcen. Atomanlagen sind eine extreme Schwachstelle der Landesverteidigung. Daher sollten Militärangehörige zu den Ersten gehören, die auf deren Beseitigung drängen. Das tun sie aber nicht, weil diese zivilen Anlagen zur Logistik der Atombombe gehören.

Die Analyse der Drohnenvorfälle führt zwangsläufig zum Paradoxon der nuklearen Abschreckung. Atommächte unterhalten ihre Arsenale nicht vorrangig mit der Absicht, diese Waffen einzusetzen, sondern weil andere Mächte über die gleichen Waffen verfügen. Das Gleichgewicht des Schreckens hält die Atommächte davon ab, gegeneinander Krieg zu führen. So lautet die offizielle Militärdoktrin, der auch die herrschende europäische Politik folgt. Deshalb sind viele Europapolitiker einschließlich einiger Urgesteine der Grünen, die anscheinend Frieden mit der Bombe schließen möchten, seit der Wahl von Donald Trump besorgt: Werden die USA, wenn sie »America first« proklamieren, ihren nuklearen »Schirm« noch über den alten Kontinent spannen? Oder fällt Europa aus dem Abschreckungssystem heraus, weil die USA nicht mehr bereit sind, für Europa die eigene Existenz aufs Spiel zu setzen? Wird Russland also die Gelegenheit dieses Ungleichgewichts nutzen, um seine Interessen in Osteuropa durchzusetzen?

Beruhigend wirkt auf diese Politiker dann, dass auch Frankreich über Atomwaffen verfügt. Diese Auffassung blendet allerdings die nicht nur ökologisch und wirtschaftlich, sondern auch militärisch verhängnisvolle Rolle der Atomindustrie konsequent aus. Die Drohnenüberflüge haben gezeigt, welches Abschreckungspotential im Nuklearbestand liegt: dass man sich selbst erschreckt. Wer ein Atomwaffenarsenal unterhält, braucht ein umfangreiches Atomprogramm, um hochangereichertes Uran oder Plutonium zu produzieren und zu verarbeiten. Ganz den nuklearen Träumen des vergangenen Jahrtausends verfallen, glaubten die französischen Pioniere, damit auch noch Geld verdienen zu können, und bauten Atomkraftwerke, was das Zeug hielt. Doch das rentierte sich nicht und heute muss man obendrein feststellen, dass man sich bedrohliche Objekte vor die eigenen Häuser gelegt hat, die im Kriegsfall nicht zu verteidigen sind. Für einen Angriff auf die Anlagen bräuchte ein Feind nicht einmal Nuklearwaffen, konventionelle sind ausreichend. Und er braucht nicht einmal einen Krieg; eine Gruppe von Terroristen oder eine Schadsoftware könnte das erledigen, und nachher weiß niemand, wer der Täter war.

So sieht die nukleare Abschreckung des 21. Jahrhunderts aus. Sie wurde von Michail Gorbatschow antizipiert, als er nach dem Super-GAU von Tschernobyl vor dem Politbüro erklärte, es brauche noch eine oder zwei weitere solcher Katastrophen, dann werde man in der Sowjetunion eine Situation vorfinden »wie nach einem mittleren Atomkrieg«. Damit wollte er das Ausmaß der Schäden charakterisieren. Heute bekommt der Satz noch eine andere Bedeutung: Sieht so der Atomkrieg der Zukunft aus? Vieles spricht dafür, dass sich die Überlegenheit des Nuklearstatus, an den fast alle Militärbefehlshaber glauben, als Irrtum erweist und dass Staaten ohne Atomtechnik militärisch besser aufgestellt sind.

Emmanuel Macron steht vor der Entscheidung, ob Frankreich an der force de frappe festhält und damit zwangsläufig auch an seiner krisengeschüttelten Nuklearindustrie und an seinen maroden Atomkraftwerken. Oder ob Frankreich als einziger Unterzeichnerstaat den Atomwaffensperrvertrag erfüllt, seine nukleare Streitmacht abrüstet und den schweren Klotz, der auf seiner Wirtschaft und seinen Finanzen lastet, endlich los wird.