Über die Berge in den Süden
Millionen von Albanern und Albanerinnen haben seit dem Zusammenbruch des Einparteienregimes das Land verlassen – nach Angaben der Bundeszentrale für politische Bildung war es bis 2010 die Hälfte der Bevölkerung. Die meisten Albanerinnen und Albaner gingen in das südöstlich angrenzende Griechenland. Der jüngsten griechischen Volkszählung zufolge lebten dort 2011 knapp eine halbe Million Albaner, mit etwa fünf Prozent der Gesamtbevölkerung stellen sie die größte Einwanderergruppe. Nicht eingerechnet sind knapp 200 000 Angehörige der griechischen Minderheit in Südalbanien, die ebenfalls nach 1990 Albanien verlassen haben und denen die griechischen Behörden als »Nordepiroten« oder »albanischen Griechen« ein besonderer Status zuerkennen.
In Griechenland, das bis in die siebziger Jahre selbst noch ein Auswanderungsland war, wuchs im Zuge des Wirtschaftbooms der neunziger Jahre der Bedarf nach billigen Arbeitskräften, überwiegend in informellen Beschäftigungsverhältnissen und für ungelernte Tätigkeiten auf dem Bau, in der Landwirtschaft und im Tourismus. Dennoch tat man sich oft schwer mit den Neuankömmlingen. Viele Griechen blickten auf die meist aus der albanischen Landbevölkerung stammenden Fremden herab, die sie für primitiv, schmutzig und ungebildet hielten. »Albaner« galt als Schimpfwort, die Albaner wurden mit angeblich steigenden Kriminalitätsraten in Zusammenhang gebracht. In dieser Zeit, in der die griechische Gesellschaft erstmals seit Jahrzehnten mit einer größeren Zahl von Migranten konfrontiert war, erstarkte die neonazistische Partei Goldene Morgenröte.
Mangels legaler Einreisemöglichkeiten erfolgte der Großteil der Migration nach Griechenland in den neunziger Jahren irregulär über die bergige Grenze, mit allen Gefahren und Nachteilen, die sich daraus ergaben. Die Illegalisierten waren der Willkür und Gewalt von Polizei und Grenzbeamten ausgesetzt, besaßen weder Kranken- noch Renten- oder Sozialversicherung und hatten keine Handhabe gegenüber Arbeitgebern, die ihnen den ohnehin kläglichen Lohn vorenthielten.
Seit 1998 erhielten die meisten albanischen Migranten in mehreren Regularisierungswellen die Möglichkeit, legale Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen zu erlangen und ihre Familien nachzuholen. In bestimmten Fällen ist inzwischen sogar die Annahme der griechischen Staatsbürgerschaft möglich, wesentlich leichter ist dies für die in Griechenland geborenen oder aufgewachsenen Kinder.
Wegen der hohen Mobilität als Wanderarbeiter und des oft prekären Aufenthaltsstatus, der Abschiebungen und Wiedereinreisen entstand in Griechenland nie eine abgeschlossene albanische community. Nach über 25 Jahren Migrationsgeschichte gelten die albanischen Einwanderer als überwiegend gut integriert.
Eine kürzlich veröffentlichte Studie des Center for Democracy and Reconciliation in Southeast Europe stellt fest, dass die in Griechenland geborenen Kinder albanischer Migranten kaum Interesse daran hätten, die albanische Sprache und Kultur zu pflegen oder gar nach Albanien zurückzukehren. Obwohl viele von Ausgrenzung und Diskriminierung in ihrer Kindheit und Jugend berichteten, identifizierten sie sich selbst meist als Griechen. Die zahlreichen albanischen Verbände in Griechenland werden überwiegend von den Migranten der ersten Generation erhalten.
Etmond Guri, der Vorsitzende des Zusammenschlusses albanischer Verbände in Griechenland, der selbst seit 1997 dort lebt, betonte jüngst in einem Interview mit der griechischen Zeitung Lifo, dass es vor allem die griechischen Behörden seien, die den Albanern das Leben schwer machten, etwa indem sie das Einbürgerungsverfahren überaus schwierig gestalten. Die Akzeptanz in der griechischen Bevölkerung sei jedoch bei persönlichem Kontakt meist sehr gut. Als Beleg verweist er darauf, dass es mehr als 20 000 albanisch-griechische Familien in Griechenland gibt. Gleichzeitig klagt er, einige Albaner der zweiten Generation trieben es mit ihrer Integration so weit trieben, dass sie mit der Goldenen Morgenröte sympathisieren und die gleichen Vorurteile gegen Flüchtlinge hegten, wie sie ihren Eltern einst entgegengebracht wurden.
Die griechische Wirtschaftskrise hat jene Albanerinnen und Albaner, die nach wie vor in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten, besonders hart getroffen. Wegen der hohen Arbeitslosigkeit in Griechenland droht denjenigen die Abschiebung, deren Aufenthaltsgenehmigung an den Nachweis einer Arbeit gebunden ist. Zudem haben inzwischen Flüchtlinge aus Afghanistan und Syrien die frühere Rolle der Albaner als rechtlose und billige Arbeitskräfte eingenommen.
»Früher beauftragte ein Grieche, wenn er eine unangenehme oder schwere Arbeit zu erledigen hatte, einfach einen Albaner. Heutzutage, da er selbst nicht viel Geld hat, überlegt er, die Arbeit selbst zu machen, um sein Geld zu sparen, oder er nimmt sich einen Afghanen, den er vielleicht am Ende nicht einmal bezahlt«, sagt Rovena, die mit ihren Eltern als Kind nach Griechenland ging und mittlerweile wieder in Tirana lebt, im Gespräch mit der Jungle World. Obwohl sie die Möglichkeit habe, die griechische Staatsbürgerschaft und damit einen EU-Pass zu erhalten, weil sie ihre gesamte Schulzeit in Griechenland verbracht habe, wolle sie wegen der vielen negativen Erfahrungen nicht in Griechenland bleiben. »Ich bin Albanerin«, sagt sie. »Ich möchte lieber hier am Aufbau meines Landes mitwirken.«
Über die Zahl der Rückkehrer und der aus Griechenland Abgeschobenen gibt es wegen der oft nicht erfassten Ein- und Ausreisen und der Saisonmigration kaum verlässliche beziehungsweise nur widersprüchliche Angaben. Dem griechischen Innenministerium zufolge erfolgte der Großteil der etwa 170 000 Abschiebungen aus Griechenland zwischen 2006 und 2015 nach Albanien. Andere Quellen gehen von jährlich 50 000 bis 70 000 Abschiebungen von Griechenland nach Albanien aus. Einer Erhebung des albanischen Statistikinstituts Instat zufolge ist die Anzahl der wegen der Wirtschaftskrise nach Albanien zurückgekehrten Staatsbürger seit 2009 gestiegen. Zwischen 2009 und 2013 wurden über 130 000 zurückgekehrte Staatsbürger erfasst, fast zwei Drittel davon kamen aus Griechenland. Die Mehrheit von ihnen gab Instat zufolge an, freiwillig zurückgekehrt zu sein. Dabei sind die Probleme keineswegs gelöst, die so viele Albaner zur Migration gedrängt haben und nach wie vor drängen – Armut, Arbeitslosigkeit, Korruption und mangelnde Perspektiven.
Auch Ravenar, der 1996 als junger Mann nach Griechenland ging, entschied sich nach 14 Jahren für die Rückkehr, weil es nach der Krise für ihn immer schwieriger wurde, Arbeit zu finden. »Ich habe alles Mögliche gemacht«, sagt er der Jungle World. »Ich habe auf den Feldern gearbeitet und auf dem Bau. Später habe ich bei der Restauration von Ikonen in orthodoxen Kirchen mitgeholfen – dabei bin ich Muslim.« Inzwischen lebt er, der ursprünglich vom Land kommt, in Tirana und arbeitet im Bauunternehmen seines Bruders. Das ausgrenzende Verhalten vieler Griechen, das auch er damals erlebt hat, führt er nicht auf Ausländerfeindlichkeit zurück, sondern eher auf Arroganz gegenüber Armen. »Doch jetzt, wo sie die Krise haben, sind sie auf einmal selber alle arm. 20 Jahre Arroganz – und jetzt endlich wissen sie, was es heißt, Albaner zu sein!«