Die Debatte über die Unabhängigkeit unter jungen Katalaninnen und Katalanen

Katalanische Entscheidung

Die spanische Regierung will das für den 1. Oktober geplante Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien um jeden Preis verhindern. Die Unabhängigkeitsbefürworter halten an ihrem Vorhaben fest. Junge Menschen in Barcelona verbinden mit der Unabhängigkeitsdebatte verschiedene Hoffnungen.

Die Rufe der Demonstrierenden auf der diesjährigen Großdemonstration am 11. September, dem Nationalfeiertag Kataloniens, waren eindeutig: »Wir haben keine Angst«, »Wir werden abstimmen«. Rund 800 000 Menschen haben Behördenangaben zufolge in Barcelona für die katalanische Unabhängigkeit demonstriert, auf den Straßen war kein Durchkommen mehr. Bereits damals zeichnete sich ab, dass der Konflikt eskalieren könnte. Die spanische Regierung zeigt sich entschlossen, das für den 1. Oktober geplante Referendum mit allen Mitteln zu verhindern, um »die Demokratie im Interesse aller Spanier zu verteidigen«, wie Ministerpräsident Mariano Rajoy sagte.

Vergangene Woche wurden 700 katalanische Bürgermeister vorgeladen, weil sie Wahllokale zur Verfügung stellen. Gegen die katalanische Regierung, die Parlamentspräsidentin und weitere Abgeordnete wird ebenfalls strafrechtlich ermittelt. Hunderte Polizisten der paramilitärischen Guardia Civil wurden nach Katalonien versetzt. Am Mittwochmorgen vergangener Woche durchsuchten sie diverse Ministerien der katalanischen Regierung und nahmen mehrere Mitarbeiter fest. Zudem wurden fast zehn Millionen Stimmzettel beschlagnahmt. Auch Druckereien, Zeitungsredaktionen und Kurierdienste wurden nach Werbematerial für das Referendum durchsucht. Fernseh- und Radiosender dürfen keine Informationen zur Abstimmung schalten. Die Justiz hat die institutionelle Website zum Referendum gesperrt. Die spanische Zentralregierung will die Kontrolle über die Finanzen Kataloniens übernehmen, damit »kein Euro für das illegale Referendum ausgegeben wird«, wie der spanische Finanzminister Cristóbal Montoro betonte. Lokalen Medien zufolge kommt dies einer Anwendung des Verfassungsartikels 155 gleich, der eine Aussetzung der Selbstverwaltung der Region bei schweren Verstößen gegen die allgemeinen Interessen Spaniens vorsieht. Die spanische Regierung will am 1. Oktober notfalls das Licht in den Wahllokalen ausschalten.

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Hoch hinaus. Menschenpyramiden werden in Katalonien traditionell zu Festen errichtet

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Krystyna Schreiber

Die öffentliche Debatte über das Referendum wird ebenfalls kriminalisiert. Journalisten und Veranstaltungsteilnehmer werden von der Guardia Civil registriert und Diskussionsrunden per Richterentscheid verboten, wie in Madrid, wo die linke Bürgermeisterin Manuela Carmena einen Saal zur Verfügung stellte.

»Die Regierung des PP fängt mit dem Konflikt Stimmen aus dem konservativen Sektor. Die Katalanen haben versucht, einen Dialog zu führen, und nichts erreicht, das hat zu Frust geführt.« Renato, Dozent

Nicht nur Unabhängigkeitsbefürworter reagieren empört. Auch spanische linke Gruppen, die gegen die Unabhängigkeit sind, und internationale Beobachter wie Amnesty International verurteilen die Repression, weil der spanische Staat damit grundlegende demokratische Rechte wie die Meinungsfreiheit und das Versammlungsrecht verletze.
Innerhalb von 24 Stunden flossen mehr als 800 000 Euro in die Solidaritätskasse für die Bußgelder, die Politiker und Bürgerrechtler mit der Organisation des Referendums riskieren. Auf vielen Kanälen läuft zur Hauptzeit ein institutioneller Werbespot für die Abstimmung. Während der Durchsuchung von Druckereien und Zeitungen legten viele Menschen rote Nelken vor der Guardia Civil nieder. Die verbotene Website zum Referendum ist nach jeder Sperrung unter einer neuen URL abrufbar.

Der katalanische Ministerpräsident Carles Puigdemont argumentierte kürzlich, das verabschiedete Referendumsgesetz schütze die »Souveränität des katalanischen Volkes«, weswegen gegensätzliche Entscheidungen des Verfassungsgerichts keinen Effekt hätten. Er betonte jedoch seine Verhandlungsbereitschaft »bis zum letzten Moment«.

 

Aus Frust abgewandt

Ein junger Mann namens Carles, der eine Berufsausbildung im Bereich audiovisuelle Medien macht, erzählt, dass seine Großeltern aus Spanien kamen und immer die konservative Volkspartei (PP) gewählt hätten. »Jetzt wollen sie die Unabhängigkeit, weil sie sehen, dass es um sozialen Fortschritt geht. Für mich hat es auch viel mit der herablassenden Haltung der Zentralpolitik zu tun, die teilweise aus dem Franquismus übernommen wurde. Man übt heute die gleiche Macht aus, nur mit anderen Mitteln.« Mit anderen jungen Menschen setzt sich Carles in Barcelona bei der Katalanischen Nationalversammlung (ANC) für die Unabhängigkeit ein. Sein Mitstreiter Marc, ein 19jähriger Student, meint, die Unabhängigkeit biete die Gelegenheit, mit dem alten Regime zu brechen: »Einen Staat von Anfang an mitgestalten zu können, ist sehr motivierend.« Julia, eine 21jährige Philosophiestudentin, sagt, sie habe sich nie als Spanierin gefühlt und immer ihre Identität verteidigen müssen: »Ich glaube, Spanien hat ein strukturelles Problem, weil sich der Staat nicht als plurinational versteht, so dass er den verschiedenen Nationen in ihm genug nicht genug Autonomie zugestehen kann.« Dem 21jährigen Physikstudenten Jordi geht es weniger um Identität, sondern um ein strukturelles Problem. Er sagt, Katalonien habe zwar ein Regionalparlament, aber die Zentralregierung behalte immer das letzte Wort: »Wir wollen Flüchtlinge aufnehmen, können darüber aber nicht entscheiden. Unsere Regionalgesetze werden ständig von einem Verfassungsgericht überrannt, das für uns alle Legitimität verloren hat.«

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A las Ramblas! Hunderttausende demonstrieren für das katalonische Unabhängigkeitsreferendum

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Katalanische Nationalversammlung

2006 war ein Autonomiestatut, das auf größere wirtschaftliche und kulturelle Eigenständigkeit Kataloniens zielte, im spanischen Parlament gegen die Stimmen des PP und in Katalonien mittels Volksentscheid angenommen worden. Nach einer Klage des PP schwächte das Verfassungsgericht jedoch 2010 einige Punkte des Autonomiegesetzes ab. Diesem Urteil folgte eine gut organisierte zivile Mobilisierung, die seither die politische Stimmung in Katalonien geprägt hat. Für viele Bürgerinnen und Bürger stellte das den Wendepunkt in ihrem Verhältnis zum spanischen Staat dar. 2006 lag die Zustimmung zur Unabhängigkeit bei gerade einmal 14 Prozent, 2012 erreichte sie schon 31 Prozent. Mittlerweile wollen mehr als 70 Prozent der katalanischen Bevölkerung über die Unabhängigkeit abstimmen und nach jüngsten Umfragen bevorzugen 41 Prozent einen eigenen Staat.

Waren 2010 nur 14 Abgeordnete im Regionalparlament für die Unabhängigkeit, ist es heute die absolute Mehrheit von 72 der 135 Abgeordneten, weitere elf befürworten ein Referendum. Die regierende Koalition Junts pel Sí (Gemeinsam für das Ja) vereint bürgerlich-konservative Parteien mit Linksnationalisten, Bürgerrechtlern und Intellektuellen. Sie paktieren mit dem linksradikalen Bündnis CUP. Die amtierende Präsidentin des katalanischen Parlaments, Carme Forcadell, war früher Vorsitzende der ANC, der größten Bürgerorganisation, die sich für die Unabhängigkeit einsetzt.

Renato, ein 29jähriger Hochschullehrer in Barcelona, der gegen die Unabhängigkeit ist, bewertet das Verfassungsgericht als politisch parteiisch und kritisiert die Blockadepolitik der Volkspartei, die in Spanien seit 2011 wieder regiert. »Die Regierung des Partido Popular fängt mit dem Konflikt Stimmen aus dem konservativen Sektor. Die Katalanen haben versucht, einen Dialog zu führen, und nichts erreicht, das hat zu Frust geführt«, sagt er. Carles von der ANC glaubt nicht, dass es nur die Schuld des PP sei: »Man hat sich in Madrid generell keinen Zentimeter bewegt. Der einzige Punkt, in dem sich die großen spanischen Parteien PP, Sozialisten und Ciudadanos einig sind, ist die unteilbare Einheit Spaniens.«

Das Nein zum Ja

Die spanische Regierung lehnte von Anfang ein Unabhängigkeitsreferendum als verfassungswidrig ab. Die katalanische Regierung gibt an, 18 Mal Verhandlungen angeboten zu haben – ohne Erfolg. Jeder souveräne Schritt wurde mit juristischer Verfolgung geahndet, wie im Fall des ehemaligen Regionalpräsidenten Artur Mas und dreier seiner Kabinettsmitglieder, die für die symbolische Volksbefragung vom 9. November 2014 Berufsverbot und hohe Geldstrafen erhielten.

Am 6. September verabschiedeten nun Junts pel Sí und die CUP bei Enthaltung der linken Koalition Catalunya Sí que es Pot (CSQP) den rechtlichen Rahmen für ein Unabhängigkeitsreferendum und wenige Tage später eine Übergangsverfassung, die in Kraft treten soll, falls die Mehrheit sich für die Eigenstaatlichkeit entscheidet. Die Regionalregierung unterschrieb sofort das Referendumsdekret und rief zur Abstimmung für den 1. Oktober auf. Das spanische Verfassungsgericht suspendierte das Gesetz in einer Eilsitzung.

Einer Studie internationaler Experten zufolge (»The Legitimacy of Cata­lonia’s Exercise of its Right to Self-determination«) ist die Frage der demokratischen Legitimität nicht einseitig zu beantworten, sowohl die katalanische als auch die spanische Position könne legitim sein. In jedem Fall sei es die Pflicht des Staats, eine politische Lösung auszuhandeln, heißt es dort; Rajoy müsse die Interessen aller Bürgerinnen und Bürger vertreten. Außerdem gelte es, in einem demokratischen Staat des 21. Jahrhunderts Rechtsstaatlichkeit und demokratische Legitimität in Einklang zu bringen und deren anhaltende Konfrontation zu vermeiden.

Nicht nur die Unabhängigkeitsbefürworter kritisieren die Einmischung der Zentralmacht in die Entscheidungen der katalanischen Institutionen. Nil, ein 24jähriger Jurist, engagiert sich bei den Jungen Sozialisten gegen die Unabhängigkeit. »Sozialgesetze wie das Gesetz zum Schutz vor Energiearmut zu suspendieren, ist einfach unverständlich«, klagt er. Unabhängigkeitsgegner wie -befürworter kritisieren ebenfalls oft die ungerechte Verteilung der Ressourcen in Spanien: Katalonien erhalte weniger zurück als vereinbart und als es brauche, obwohl es Nettozahler sei. Am stärksten sei die Belastung wegen fehlender Investitionen in wirtschaftlich notwendige Infrastruktur zu spüren: Nur neun bis elf Prozent der für Katalonien vereinbarten Investitionen würden vom Zentralstaat tatsächlich getätigt.

»Dabei geht es nicht um Egoismus. Katalonien ist immer solidarisch gewesen. Nur wenn man sich ausgenutzt fühlt, ist irgendwann Schluss«, meint Carles von der ANC dazu. Auch Nil fände es wichtig, über die Infrastruktur lokal zu entscheiden. Er verweist auf die 40 zentral verwalteten Flughäfen, von denen einige leerstehen: »Wenn die Verantwortung bei den Regionen läge, hätte man die Investitionen besser geplant. Die bisherige Struktur begünstigt auch die Korruption.«

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Demonstration in Barcelona, 11. September

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Krystyna Schreiber

Hoffnung auf mehr Demokratie

Nach Angaben der EU hat Spanien mit 38,2 Prozent die zweithöchste Jugendarbeitslosigkeit in Europa. Carles glaubt, dass die Unabhängigkeit sozialen Fortschritt bringen würde: »Wenn man das katalanische Parlament mit anderen Autonomen Gemeinschaften oder dem spanischen Kongress vergleicht, ist es linksgerichteter. In Katalonien ist der Partido Popular die schwächste Kraft, in Spanien regiert er. Wir sind nicht besser oder schlechter, aber wir denken und entscheiden anders.«
Die jungen Unterstützerinnen und Unterstützer der ANC räumen ein, dass sich nicht alle Menschen für Politik interessieren, dennoch gebe es in Katalonien viele Menschen, die politisch aktiv und gut informiert seien. »All das ist eine Garantie dafür, dass die Menschen aktiv am Aufbau der Republik teilnehmen und ein demokratischeres Land schaffen werden. Es ist auch wichtig, dass der Wunsch nach Veränderung von der Straße kam und die Politik nachgezogen hat«, meint Julia. Dass die Unabhängigkeit nicht die alleinige Lösung ist, sei ihnen klar. »Zumindest wären wir für unsere Erfolge und Misserfolge selbst verantwortlich«, sagt Jordi. Von einer unabhängigen Gesetzgebung erhoffen sie sich mehr Kontrolle über die Politik und ein besseres Vorgehen gegen Korruption.

Der Unabhängigkeitsgegner Nil würde lieber Spanien neu strukturieren. »Das derzeitige Modell funktioniert nicht, Föderalismus wäre das beste Modell«, so der junge Jurist. Allerdings sei eine Änderung der Kräfteverhältnisse in Spanien, um eine Verfassungsänderung durchzusetzen, kurzfristig nicht in Sicht. Nur 13,2 Prozent der Bevölkerung Spaniens wünschen sich einer Studie des Centro de Investigaciones Sociológicas vom Juli zufolge mehr Föderalismus. »Wir müssen Föderalismus attraktiver machen, mehr auf die Leute zugehen«, so Nil. Für den Dozenten Renato ist das größte Hindernis die spanische Regierung: »Der Partido Popular benutzt die Justiz, um politische Probleme zu lösen. Aus meiner Sicht liegt die Lösung im spanischen Parlament.«

Die Unabhängigkeitsbefürworter hoffen, dass sich viele am Referendum am 1. Oktober beteiligen werden. »Wir reden mit vielen jungen Leuten, um ihnen bewusst zu machen, dass es wichtig ist mitzuentscheiden. Das Gute ist, dass sich durch die Unabhängigkeitsdebatte viele junge Leute positionieren«, sagt Marc. »Für mich ist es wichtig, das Recht auf Entscheidung auszuüben, egal ob man mit ja oder nein stimmt. Aber dass man als Mensch diese Wahl hat«, sagt Carles. »Leider gab es keine Kampagne, in der Gegner und Befürworter die Vor- und Nachteile öffentlich diskutiert hätten, weil wir nicht in einem demokratischen Staat leben«, findet er.

Nil will hingegen definitiv nicht abstimmen: »Ich möchte kein Referendum unterstützen, bei dem einige Bürger sich nicht repräsentiert fühlen, weil sie nicht gegen spanisches Gesetz verstoßen wollen.« Renato will auch nicht teilnehmen. Er meint, dass es keine Garantien für ein echtes Referendum gebe. Zudem sind Renato und Nil überzeugt, dass eine einseitige Unabhängigkeitserklärung international nicht anerkannt würde.

Wie es mit der Mitgliedschaft in der EU aussehen würde, ist eine andere Frage. Der Student Marc sieht Katalonien durchaus in einem föderalen Europa, kritisiert aber die derzeitige EU-Politik: »Man beschwert sich über Trump, der eine Mauer an der Grenze zu Mexiko bauen will, und im Balkan werden kilometerlange Grenzzäune gegen Flüchtlinge errichtet.« Für Carles erfüllt die EU auch eine Schutzfunktion: »Sie gibt mir Garantien. Als Bürger hoffe ich, dass es, wenn hier meine Grundrechte verletzt werden, eine Reaktion gibt.« Julia ist sich sicher, dass ein katalanischer Staat zu Solidarität und Demokratie in Europa beitragen könnte. »Die meisten von uns wollen ein föderales Europa«, sagt sie.