Venezuela nach den Gouverneurswahlen

Die Macht des Klientelismus

Offiziellen Angaben zufolge hat die regierende Sozialistische Einheitspartei Venezuelas bei den Gouverneurswahlen die Mehrheit gewonnen. Das Oppositionsbündnis MUD leckt seine Wunden.

Nicolás Maduro war sich seiner Sache offenbar sehr sicher. Anstatt mitten im Kampf um die Wählerstimmen feurige Reden über die Erfolge seiner sozialistischen Regierung zu halten, kümmerte sich der venezolanische Präsident um die internationalen Beziehungen. Nicht die anstehenden Regionalwahlen, sondern die Kontakte zu seinen Verbündeten weltweit standen im Vordergrund. Also traf er sich in der ersten Oktoberwoche mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin, um über Ölgeschäfte zu reden. Danach besuchte er den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. »Wir glauben an eine andere Art von Welt«, ließen die beiden wissen und forderten eine multipolare Weltordnung, »in der jeder ­seinen Platz finden kann«.

Der Linke Nicmer Evans spricht von einem »Megawahlbetrug« und meint damit auch das klientelistische System, das Menschen zwingt, den PSUV zu unterstützen.

 

Eindeutiger Sieg trotz Krise

Doch Erdoğan und Maduro verbindet mehr als die Vision der Multipolarität, der massenhafte Einkauf russischer Waffen und umfangreiche Erfahrungen im Umgang mit missliebigen Journalisten sowie anderen Kritikerinnen. Schenkt man den amtlichen Ergebnissen der Regionalwahlen vom 15. Oktober Glauben, findet Maduro wie sein türkisches Pendant große Zustimmung in der Bevölkerung. Trotz wirtschaftlicher Krise haben demnach 54 Prozent der Sozialistischen Einheitspartei (PSUV) ihre Stimme gegeben, 45 Prozent unterstützten die Gouverneurskandi­daten des oppositionellen Parteienbündnisses Mesa de la Unidad Democrática (MUD). 18 der insgesamt 23 Bundesstaaten werden künftig von PSUV-Politikern regiert, nur fünf von Gegnern des Regimes.

Was ist passiert? Das fragen sich seither alle, die dem »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« kritisch gegenüberstehen. Denn Umfragen hatten einen anderen Wahlausgang prognostiziert. Zwischen 15 und 18 Gouverneure hätte die MUD künftig stellen sollen, bislang hatten nur drei ein solches Mandat inne. Es waren die ersten Wahlen nach der umstrittenen, von Maduro anberaumten Wahl der Verfassunggebenden Versammlung. Gegen dieses Gremium waren im Sommer Hunderttausende auf die Straße gegangen, bei Auseinandersetzungen kamen 125 Menschen ums Leben. Auch die soziale Lage sprach ­gegen die amtierenden Sozialisten. Angesichts des Mangels an Lebensmitteln und Medikamenten sowie der zunehmenden Kriminalität stand nach Einschätzungen von glaubwürdigen Agenturen wie Datanalisis bestenfalls noch jeder Vierte hinter Maduro. Und dennoch dieser eindeutige Sieg?

Noch am Tag der Auszählung teilte der Wahlleiter der MUD, Gerardo Blyde, mit, man werde das Resultat nicht hinnehmen. »Sie wissen, dass sie nicht die Mehrheit haben, auch das Land und die Welt weiß das«, sagte er selbstbewusst. Es verwundert wenig, dass Oppositionelle kein Vertrauen in die Nationale Wahlbehörde (CNE) hatten und sofort Betrug witterten. Spätestens seit der Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung am 30. Juli glaubt kaum mehr jemand an das vermeintlich vor Beeinflussung sichere Abstimmungssystem. 8,1 Millionen Menschen sollen damals nach Angaben des CNE für das Gremium gestimmt haben. Das seien mehr Stimmen, als Maduros wesentlich beliebterer verstorbener Vorgänger Hugo Chávez in seinen besten Zeiten erhalten habe, sagte Inti Rodríguez von der Menschenrechtsorganisation Provea. »Das ist völlig unglaubwürdig.«

Schließlich habe unter Chávez noch der hohe Erdölpreis genügend Devisen eingebracht, um der armen Bevölkerung Nahrung und medizinische Grundversorgung zu garantieren. Die Firma Smartmatic, die einst die Wahlcomputer installiert hatte, sprach ebenfalls von Manipulationen; sie habe mindestens eine Million Stimmen weniger ­gezählt.

 

»Wir sind mit einem absolut betrügerischen System konfrontiert.«

Auch bei der jetzigen Gouverneurswahl gab es Ungereimtheiten: Es wurden kurzfristig Wahllokale in Hochburgen des PSUV verlegt, unabhängige ­internationale Beobachter waren nicht zugelassen und auf den Wahlzetteln befanden sich Oppositionskandidaten, die gar nicht mehr zur Wahl standen. Zudem flossen staatliche Gelder in den Wahlkampf des PSUV.

Carlos Ocariz, der im bislang von der MUD regierten Bundesstaat Miranda gegen den PSUV-Konkurrenten unterlag, resümierte: »Wir sind mit einem absolut betrügerischen System konfrontiert.« Kaum war das Ergebnis veröffentlicht, zeigte sich die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini »überrascht« und forderte, man müsse nun herausfinden, was tatsächlich passiert sei. Die Lima-Gruppe, ein Bündnis von zwölf lateinamerikanischen Staaten, forderte eine unabhängige Überprüfung.

Sicher würde eine erneute Zählung helfen, die vielen berechtigten Fragen zu klären. Doch bislang ist die MUD den Beweis für einen großangelegten Betrug schuldig geblieben. Auch innerhalb des Bündnisses war man sich nicht einig. Henri Falcón etwa, der als MUD-Kandidat für den Bundesstaat Lara angetreten war, sagte nach seiner Niederlage: »Wir haben verloren. So einfach ist das, und das müssen wir akzeptieren.« Ähnlich äußerten sich ­weitere Oppositionelle. So etwa Laidy Gómez, die sich vergeblich um den Gouverneursposten im Bundesstaat Táchira beworben hatte.

Bereits vor den Wahlen hatte es in der MUD Streit gegeben. Einige setzten sich für einen Boykott ein, und das aus gutem Grund. 16 Bürgermeister, die kandidieren wollten, waren vorab verhaftet worden und dem aussichtsreichen Kandidaten Henrique Capriles hatte die Regierung verboten anzu­treten. Zudem hatte sie schon vorab deutlich gemacht, dass der Spielraum für Gouverneure sehr begrenzt sein werde. Diese unterstünden nämlich der ausschließlich von Maduros Leuten besetzten Verfassunggebenden Versammlung, zu deren ersten Handlungen es zählte, das von der Opposition dominierte Parlament zu entmachten und die regimekritische Generalstaatsanwältin Luisa Ortega ihres Amtes zu entheben. Wer unter diesen Umständen an einer Wahl teilnehme, argumentierten die Kritiker, unterstütze ein korruptes, totalitäres System.

Doch nicht nur die Spaltung spielte eine Rolle für das offensichtlich schlechte Abschneiden des in erster Linie wirtschaftsliberal orientierten Bündnisses. Die Oppositionellen selbst ­interpretieren die geringe Wahlbeteiligung, die von 74 Prozent auf 61 Prozent gesunken ist, als Zeichen ihrer geringen Mobilisierungskraft. Bereits die Unfähigkeit, die Einrichtung der Verfassunggebenden Versammlung aufzuhalten, offenbarte die Schwäche des MUD. Weder die großen Proteste noch politische Interventionen konnten den autoritären Durchmarsch aufhalten. Mit der Entmachtung des Parlaments hat das Regime die MUD auflaufen lassen, denn über die Präsenz im Abgeordnetenhaus hinaus verfügt das Bündnis über kein strategisches Mittel, um den Sozialisten Grenzen zu setzen. Was also blieb, war ein Frust, der nicht zum Wählen animierte.

 

Eine ­Allianz zwischen liberalen Kräften und regimekritischen Linken ist nicht in Sicht

Ohnehin repräsentiert die MUD ebenso wie Maduro bestenfalls ein Viertel der Bevölkerung und kann nur auf den Unmut der besser gestellten Schichten zählen. Inzwischen sind es jedoch auch die Menschen aus den Armenvierteln, die unter der Wirtschaftskrise leiden und sich gegen die Regierung des ­»Sozialismus des 21. Jahrhunderts« stellen. Also jene, die einst fest hinter Präsident Chávez standen. »Es ist an der Zeit, dass sich die MUD und alle anderen Oppositionellen einigen«, sagte deshalb Wahlleiter Blyde. Doch dafür sei es mittlerweile zu spät, widersprach der kritische Chavist Nicmer Evans: »Die MUD kann nicht mehr mobilisieren, sie lag bereits im Sterben, und mit den Wahlen vom 15.Oktober ist sie gestorben.«

Wie viele Linke, die lange der »Bolivarianischen Revolution« verbunden ­waren, hat sich auch Evans von Maduro distanziert. Er spricht von einem ­»Megawahlbetrug« und meint damit auch das klientelistische System, das Menschen zwingt, den PSUV zu unterstützen, um nicht ihren Arbeitsplatz zu verlieren oder auf das monatliche preisgünstige Paket der staatlichen ­Essensversorgung verzichten zu müssen. Evans, der bis vor kurzem in der trotzkistischen Partei »Marea Socialista« organisiert war, plädiert für eine ­»andere Opposition«, in der Separatismus und ideologische ­Vorbelastungen überwunden würden.

Doch eine ­Allianz zwischen den liberalen Kräften des MUD-Bündnisses und regimekritischen Linken ist derzeit nicht in Sicht.
Maduro dürfte das kaum beruhigen. Wenn seine ­Regierung Hungerrevolten verhindern will, die nicht einmal die MUD kontrolliert, müsste sie eine Mindestversorgung sicherstellen. Doch das ist nicht einfach: Die heimische Nahrungsindustrie ist ruiniert und der Erdölverkauf bringt wegen des geringen Weltmarktpreises nicht die nötigen Devisen ein, um genügend Lebensmittel und Medizin zu importieren. Maduros Visite bei Putin war also mehr als notwendig. Denn mit seinem russischen Kollegen vereinbarte er nicht nur weitere Öllieferungen, um die Schulden an Moskau zu begleichen. Auch am Projekt »Arco Minero«, das große Teile des venezolanischen Amazonas-Gebiets ­internationalen Investoren zur Ausbeutung von Mineralien zur Verfügung stellen soll, ist Russland nun beteiligt. Und was den Umgang mit der Oppo­sition angeht, war Maduro mit seinem Besuch bei Erdoğan sicher sehr gut ­beraten.