Nächstes Jahr soll der Giro d’Italia zu Ehren der Radsportlegende Gino Bartali in Jerusalem beginnen

Radfahrender Widerstandskämpfer

Der Giro d’Italia beginnt 2018 erstmals in Israel. Damit soll Gino Bartali geehrt werden, eine italienische Radsportlegende und ein Gerechter unter den Völkern.

November 1943. In Florenz, das damals zur »Italienischen Sozialrepublik« gehörte, einer auch als »Saló« bekannten faschistischen Abspaltung Italiens unter der Kontrolle deutscher Truppen, verhafteten SS und kollaborierende Polizeieinheiten immer mehr Juden und deportierten sie in Konzentrationslager. Der Fahrradmechaniker Armando Sizzi sorgte sich um seinen Freund Giacomo Goldenberg und dessen Familie. Er selbst hatte zwar keinen Platz, um die Goldenbergs zu verstecken, aber zum Glück war er der Cousin von Gino Bartali, Italiens damals erfolgreichstem Radsportler. Er fragte diesen, ob er helfen könne. Dieser half sofort und ohne große Worte. Familie Goldberg fand Unterschlupf in einem Haus Bartalis.

Der äußerst gläubige Katholik war vom Florenzer Erz­bischof Elia Dalla Costa, der zusammen mit Rabbi Nathan Cassuto ein Netzwerk für verfolgte Juden aufgebaut hatte, für den Widerstand rekrutiert worden – Cassuto wurde 1945 von den Nazis ermordet.

Was Sizzi nicht wusste: Bartali war bereits aktives Mitglied der Resistenza. Der äußerst gläubige Katholik war kurz zuvor vom Florenzer Erz­bischof Elia Dalla Costa, der zusammen mit Rabbi Nathan Cassuto ein Netzwerk für verfolgte Juden aufgebaut hatte, für den Widerstand rekrutiert worden – Cassuto wurde 1945 von den Nazis ermordet. Bartali, der damals bereits zweimal den Giro d’Italia und einmal die Tour de France gewonnen hatte, nützte seine Trainingsrunden in der Toskana dazu, gefälschte Reisepässe, Geld und Informationen von einem Stützpunkt des Widerstands zum nächsten zu transportieren. Die italienischen Faschisten und die Nazis wagten es lange nicht, den äußerst populären Star zu filzen. Als er Ende 1943 doch noch verhaftet und tagelang in einem berüchtigten Folterzentrum der Faschisten festgehalten wurde, hatte er zum Glück kein belastendes Material dabei. Beim Verhör schwieg er einfach. Auf Druck der Öffentlichkeit kam er bald frei – und machte mit seiner konspirativen Arbeit weiter. Die jüdisch-katholische Widerstandszelle, der er angehörte, rettete un­gefähr 800 Juden das Leben. 2012 würdigte das Holocaust-Gedenkzentrum Yad Vashem Erzbischof Dalla Costa als »Gerechten unter den Völkern«, ein Jahr später wurde auch Bartali diese Ehre zuteil.

Ende der zwanziger Jahre erlebte der 1916 geborene Bartali, wie die Schwarzhemden seinen Vater, einen katholischen Arbeiteraktivisten, öffentlich demütigten. Der Junge sah hilflos zu, wie die Faschisten »Rote« und alle, die sie dafür hielten, unter Schlägen dazu zwangen, Mussolini zu lobpreisen. Oberflächlich blieb Gino dennoch unpolitisch und engagierte sich lieber in der Kirche. Mit seinem kleinen Bruder Giulio trainierte Gino in jeder freien Minute das Radfahren. Gino war besser und machte bald überregional von sich reden, wurde Profi, Giulio war immerhin im Amateurradsport erfolgreich – bis ihn 1936 bei einem Straßenrennen in Florenz ein Auto überfuhr. Immer wieder suchte Gino das Grab seines geliebten Bruders auf. Dort dachte er nach, dort fiel auch sein Entschluss, der Resistenza zu helfen.

1936 und 1937 gewann Bartali, wegen seiner Religiosität »der Heilige« gerufen, den Giro d’Italia. Radsport war im Italien der dreißiger Jahre ungeheuer populär, und als Bar­tali 1938 auch noch bei der Tour de France siegte, musste er sich allenfalls noch mit Fausto Coppi messen, einem Radler aus Norditalien, der Bartali an Talent kaum nachstand. Die Rad-Tifosi unterteilten sich rasch in »Coppiani« und »Bartaliani«. Bartali war im streng katholischen Mittel- und Süditalien beliebt, Coppis Anhänger rekrutierten sich vor allem aus norditalienischen Arbeitern. Während Bartali sich dem Widerstand anschloss, wurde Coppi von der Armee rekrutiert und geriet 1943 in Afrika in britische Kriegsgefangenschaft.

Nach dem Weltkrieg brach die Rivalität der beiden Radfahrer erst richtig aus, doch abseits der Rennstrecke wurden sie Freunde. 1952 schoss der Reporter Carlo Martini während der Tour de France ein Foto, das in die Sportgeschichte eingehen sollte. Es zeigt, wie der knapp vorne liegende Coppi seinem Verfolger Bartali eine Wasserflasche reichte, oder von Bartali eine empfing. Eine Geste der Fairness, die in Zeitungen in aller Welt abgedruckt wurde. Später sollte sich zwar herausstellen, dass das Foto nachgestellt worden war, aber die Szene hatte sich nach übereinstimmenden Aussagen der beiden Radsportler einen Tag zuvor genau so abgespielt. Allerdings beharrten beide darauf, der edle Sportsamariter gewesen zu sein. Wer wem die Flasche reichte, ist weiterhin ungeklärt. Coppi starb 1960 an einer unerkannten Malaria-Infektion, die er sich bei einem Rennen in Afrika zugezogen hatte.

Heutige Sportärzte und Rennradfahrer würden entsetzt die Köpfe schütteln, wenn sie von Gino Bartalis großer Leidenschaft wüssten: Der Mann rauchte täglich mindestens eine Packung filterlose Zigaretten. Dass er dennoch einer der erfolgreichsten Profiradfahrer des 20. Jahrhunderts und noch dazu stattliche 85 Jahre alt wurde, passt so gar nicht zum eher genussfeindlichen Hochleistungsprinzip der Athletik. Nach 1945 feierte der Mann mit der markanten, bei einem Sturz gebrochenen Nase seine letzten großen Triumphe: 1946 gewann er in Italien erneut den Giro d’Italia und 1948 zum zweiten Mal die Tour de France. In Frankreich stellte er dabei einen Rekord auf, der erst 50 Jahre später eingestellt werden sollte: Er gewann drei Bergwertungen hintereinander. Eine ungeheure körperliche Leistung, die umso erstaunlicher wirkt, wenn man bedenkt, dass Bartali Berg­etappen meistens im Sitzen bewältigte.

Anfang der fünfziger Jahre machte sich langsam das Alter bemerkbar und Bartali wurde von jüngeren Fahrern ausgestochen. Die italienische Presse war zu ihrem langjährigen Helden nicht sehr nett, nannte ihn den »alten Mann« und gab ihm, da er Journalisten nicht immer freundlich behandelte, manchmal auch den Beinamen »der Schreckliche«. Dabei war er gar nicht absichtlich ruppig zu Journalisten – er redete nur nicht gern. So schwieg er auch fast bis zu seinem Lebensende über seine Rolle im Widerstand. Nur engsten Familienangehörigen öffnete er sich – und einer Schwester seines alten Kampfgefährten Nathan Cassuto, Sara Corcos. Dieser gewährte er kurz vor seinem Tod im Jahr 2000 ein Interview, in dem er davon erzählte, wie er zwischen 1943 und 1945 Dokumente und Geld für den Widerstand transportiert hatte, getarnt als Trainingsfahrten. Auf die Frage, warum er getan habe, was er tat, sagte er lakonisch: »Man hat ein Gewissen.« Das Interview trug neben den vielen Aussagen Geretteter maßgeblich dazu bei, dass Bartali posthum zum Gerechten unter den Völkern ernannt wurde. Bartali starb im Mai 2000 an einem Herzinfarkt. Über­liefert ist sein Pessimismus angesichts des neuerlichen Aufstiegs extrem rechter Gruppen. »Alles läuft falsch, wir werden das alles noch einmal durchmachen müssen«, soll er mehrmals gesagt haben,

Gino Bartali wurde nie vergessen. Vor allem nicht von denen, die er zu retten half, und von deren Nachkommen. Am 4. Mai 2018 soll der Giro d’Italia zu seinen Ehren in Jerusalem beginnen. Gleich drei Etappen sollen in Israel und damit erstmals außerhalb des geographischen Europa stattfinden. Die erste ist ein Zeitfahren in Jerusalem, zwei weitere sind schnelle Sprintetappen um Tel Aviv und Eilat.