Frankreichs Atomkraftwerke werden wohl trotz Skandalen noch länger laufen

Teuer erkaufter Klimaschutz

Die Abkehr Frankreichs von der Atomenergie wird wohl noch länger auf sich warten lassen – trotz zahlreicher Fehler und Skandale in der Nuklearwirtschaft.

Pünktlich zum Auftakt der Bonner Klimakonferenz hat der französische Umweltminister Nicolas Hulot ein Bekenntnis zur Atomkraft abgelegt. Um den CO2-Ausstoß zu senken, müsse man Kohlekraftwerke stilllegen, und wenn man auf Kohle verzichtet, brauche man eben die Atomenergie. Deshalb will Hulot die kleine französische Energiewende aufschieben, die vorsieht, den Atomstromanteil an der Elektrizitätserzeugung von derzeit 72 Prozent auf 50 Prozent im Jahr 2025 zu senken. Mit anderen Worten: Es kommt die nächste Laufzeitverlängerung. Sie betrifft die 17 ältesten französischen AKW. Fessenheim allerdings, versichert Hulot, sei davon nicht tangiert. Die Anlage am Oberrhein werde wie angekündigt stillgelegt, sobald der Euro­päische Druckwasserreaktor (EPR) Flamanville-3 an der normannischen Küste in Betrieb gegangen sei.

Flamanville steht für die zweite richtungsweisende Entscheidung der französischen Umweltpolitik. Mitte Oktober erteilte die französische Atomaufsicht ASN eine Freigabe für den 500 Tonnen schweren Reaktordruckbehälter des EPR und beendete damit einen zweieinhalbjährigen Streit. Die Behörde ist formal unabhängig, untersteht faktisch jedoch dem Umweltministerium. Zum ersten Mal hat sie den Betrieb einer zentralen Reaktorkomponente genehmigt, der sie explizit »verminderte ­Sicherheit« bescheinigt. Dafür trägt Klimaschützer Hulot die volle Verantwortung.

Der Atomkonzern Areva scheint Kaufpreise, die gar nicht bezahlt wurden, in die Bücher eingetragen und die Differenzen benutzt zu haben, um verlustreiche Geschäfte oder Altlasten abzuschreiben.

Am EPR wird schon seit einem Jahrzehnt gebaut. Die veranschlagten Kosten haben sich in dieser Zeit verdreifacht. Im April 2015 erfuhr die Öffentlichkeit, dass der in Flamanville verbaute Reaktorstahl nicht der geforderten Norm 16 MND5 entspricht. Er enthält im Deckel und in der Boden­kappe des Druckbehälters einen Kohlenstoffanteil von 0,3 Prozent statt der geforderten 0,2 Prozent. Die sogenannte Kohlenstoffanomalie beeinträchtigt die Bruchfestigkeit des Materials und somit seine Widerstandsfähigkeit in Extremsituationen von Druck und Temperatur. Der Druckbehälter ist das Herzstück jedes Reaktors. Somit gewährt das modernste und teuerste europäische Atomkraftwerk gerade nicht jene höchste Sicherheit, die François Mitterrand und Helmut Kohl in Aussicht stellten, als sie das französisch-deutsche EPR-Projekt 1992 verabredeten.

Die ASN argumentiert, vom Reaktorhersteller Areva ausgeführte und von unabhängigen Experten begleitete Experimente hätten gezeigt, dass der verwendete Stahl, obgleich nicht normgerecht, für alle Situationen des Reaktorbetriebs geeignet sei. Durch die Kohlenstoffverunreinigung steige aber die Gefahr, dass sich Mikrorisse plötzlich zu Bruchstellen ausweiten. Eine regelmäßige Überwachung der Werkstoff­qualität während des laufenden Betriebs, vermutlich mit Ultraschall, sei für den Boden des Reaktorgefäßes technisch möglich und soll vom Betreiber Électricité de France (EDF) gewährleistet werden. Für den Reaktordeckel, der eine kompliziertere Struktur aufweist, sei dies nach gegenwärtigem Stand der Technik nicht machbar. Deshalb müsse er zum frühestmöglichen Zeitpunkt ausgetauscht werden. Dies könne in sieben Jahren bewerkstelligt werden. EDF hat bereits einen neuen Reaktordeckel bestellt, diesmal allerdings nicht bei der zu Areva gehörenden Schmiede Creusot

Forge, sondern beim japanischen Stahlunternehmen JSW.
Wenn der EPR in Flamanville wie derzeit geplant Ende 2018 ans Netz geht, wären das sechs Betriebsjahre mit einem neuen, bisher unbekannten Restrisiko. Die Experten der Aufsichtsbehörde bleiben eine Begründung schuldig, warum sie dieses Risiko sechs Jahre lang für vertretbar halten, länger aber nicht.

Blickt man auf die Entstehungsgeschichte des Reaktordruckbehälters zurück, wird deutlich, wie glimpflich Areva und EDF davongekommen sind. Die beiden in Frage stehenden Teile, der Deckel und die Bodenkalotte, wurden in den Jahren 2006 und 2007 bei Creusot Forge produziert. Schon zu diesem Zeitpunkt war allen Beteiligten klar, dass die Schmiede große Probleme bei der Erfüllung des Auftrags haben würde. Verantwortliche von der ASN prüften die Abläufe in dem Unternehmen. Sie stellten zahlreiche Mängel fest und warnten EDF, Creusot Forge werde den Qualitätsanforderungen nicht gerecht. Der damalige Leiter der Atomaufsicht, André-Claude Lacoste, besuchte die Firma, um sich ein Bild zu machen. Was er dabei beobachten konnte, habe ihn »erschüttert«, berichtete er im März 2017. Deshalb habe er Areva damals mitgeteilt, das Unternehmen müsse die Schmiede entweder wechseln oder kaufen. Areva kaufte sie und ließ die Arbeiten wie gehabt fortsetzen.
Es folgte ein siebenjähriger Briefwechsel zwischen Areva und der ASN über die Modalitäten der Qualitätssicherung für den Reaktordruckbehälter. Damit schindete der Hersteller so lange Zeit, bis der Kessel auf der Baustelle eingebaut war. Erst 2014 begann Areva mit der Materialprüfung an baugleichen Teilen, die angeblich schon für den walisischen EPR Hinkley Point C ge­fertigt worden waren. Das Ergebnis wies die Anomalien auf, mit denen man von Anfang an gerechnet hatte.

Im Sinne einer pseudodemokratischen Bürgerbeteiligung hat die Atombehörde ein Vierteljahr vor der Entscheidung ihre Position veröffentlicht und im Netz zur Diskussion gestellt. Sie erhielt Hunderte von Antworten, fast alle gegen die Genehmigung argumentierend, fast alle fachlich kompetent verfasst – und für den Papierkorb bestimmt. Darunter befindet sich ein Schreiben, in dem darauf aufmerksam gemacht wird, dass es nicht nur um Reaktorsicherheit und Umweltschutz gehe, sondern auch um einen Fall von Wirtschaftskriminalität. Es stammt von einem ehemaligen Manager der umstrittenen Stahlunternehmen von Creusot, Jean-François Victor. Dieser widerspricht der allgemein gängigen Darstellung, Creusot Forge habe sich bereits im Besitz von Areva befunden, als die Schmiede den Auftrag für Flamanville erhielt. Es sei wichtig zu wissen, dass der Kauf durch den Reaktorhersteller erst im Oktober 2006 erfolgte. Areva habe dafür 170 Millionen Euro an den bretonischen Unternehmer Michel-Yves Bolloré überwiesen. Der Vorbesitzer habe allerdings gar kein Interesse an der Stahlproduktion gezeigt; er habe die Unternehmen von Creusot, die Anfang des Jahrtausends vor der Insolvenz standen, für einige Hunderttausend Euro erworben, um mit ihnen ­wenige Jahre später astronomischen Gewinn zu machen. Areva, das früher schon Beteiligungen an Creusot hielt, habe sich damals geweigert, zur Vermeidung der Insolvenz 800 000 Euro hinzuzugeben – ein paar Jahre später entrichtete das Unternehmen das Zweihundertfache als Kaufpreis. Ob hier ­alles mit rechten Dingen zugegangen sei, fragt Victor und fordert die Staatsanwaltschaft auf, ein Verfahren zu ­eröffnen. Der Preis war viel zu hoch; mittlerweile sind die Firmen vermutlich nicht einmal ein Zehntel dessen wert.

Ist ein Teil dieser beachtlichen Summe an Areva zurückgeflossen? Im August beschwerte sich der französische Wirtschaftsminister Bruno Le Maire im Parlament über das frühere schlechte Management bei Areva und kritisierte die ständige Inanspruchnahme von Subventionen durch die staatseigenen Atomunternehmen. Die jüngste Umstrukturierung der Nuklearbranche, konzipiert von Emmanuel Macron, als er noch Wirtschaftsminister unter Präsident François Hollande war, soll den französischen Staat acht Milliarden Euro kosten, fünf Milliarden für Areva und drei für EDF.

Areva scheint Kaufpreise, die in Wirklichkeit gar nicht bezahlt wurden, in die Bücher eingetragen und die Differenzen benutzt zu haben, um andere verlustreiche Unternehmungen oder Altlasten abzuschreiben. Die Geschäftsleute, die das Spiel mitspielten, haben sich das sicherlich honorieren lassen. So konnte Areva den Eindruck eines erfolgreichen und expandierenden Unternehmens aufrechterhalten, während seine finanzielle Lage in Wahrheit schon verzweifelt war. Das ist sie zurzeit umso mehr.

Wenn es so weitergehe mit der Verschwendung von Steuergeldern, drohte Le Maire vor dem französischen Parlament, werde er mit der Faust auf den Tisch hauen. Anstatt jedoch das Mobiliar der Nationalversammlung zu beschädigen, könnte er auch bei Justizministerin Nicole Belloubet nachfragen, warum die Staatsanwaltschaft im Fall Creusot Forge immer noch zögert. Denn der Wirtschaftsminister bestätigt ja den Verdacht Victors.

Über kurz oder lang wird sich die Justiz mit Creusot Forge beschäftigen müssen und vielleicht auch mit dem beispiellosen Genehmigungsverfahren für den Europäischen Druckwasser­reaktor. Dann könnte es ungemütlich für den Umweltminister werden, den Die Zeit noch vor wenigen Tagen begeistert porträtierte: »So einer wie Hulot fehlt den Grünen in Deutschland für ihre Jamaika-Verhandlungen.«