23.11.2017
Der neue saudische Kronprinz könnte einiges im Land ändern

Überraschung vom Kronprinzen

In Saudi-Arabien kommt es zu einer kulturellen und politischen Öffnung. Außenpolitisch sieht sich die Monarchie mit einer schiitischen Offensive konfrontiert, gegen die sie wenig ausrichten kann.

Der Nahe Osten ist einmal mehr in einem Zustand angelangt, der vor einigen Jahren noch als völlig undenkbar bezeichnet worden wäre. Entwicklungen in Zusammenhang mit Saudi-Arabien lösen nun Rätselraten und Verblüffung aus. Da ist der überraschende Besuch des libanesischen Ministerpräsidenten Saad Hariri in Riad, der dort am 4. November seinen Rücktritt erklärte, was selbst seine eigenen, nicht mitgereisten Berater irritierte. Aus schiitischen Kreisen war umgehend die Mutmaßung zu vernehmen, Hariri werde in Saudi-Arabien festgehalten. Der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) forderte in Gegenwart seines libanesischen Amtskollegen, Hariri solle ausreisen dürfen, und kritisierte »politisches Abenteurertum«.

Nun erinnerte Hariris Empfang durch den französischen Präsidenten Emmanuel Macron ein paar Tage später in Paris wirklich ein bisschen an den Auftritt einer freigelassenen Geisel, aber Gabriels undiplomatische Äußerung an der Seite der Parteigänger des Iran führte zu einem Debakel deutscher Außenpolitik. So rief die saudische Regierung mit einer Zornesgeste ihren Botschafter aus Berlin zurück und der vielleicht zurückgetretene Hariri – so genau ist das nicht klar – wandte sich auf dem Weg zum Flugzeug nach Frankreich per Twitter an Gabriel: Es sei eine Lüge, dass er Saudi-Arabien nicht habe verlassen dürfen. Selbst wenn ein gewisser Zwang ausgeübt worden sein mag, eine öffentliche Brüskierung der Saudis konnte der libanesische Politiker, der zugleich saudischer Staatsbürger ist und das Land als sunnitische Schutzmacht hinter sich weiß, sich nicht leisten.

In einer öffentlichen Diskussion bezog sich der saudische Kronprinz kürzlich auf das Jahr 1979 und die Rückkehr zu einem toleranten Islam, wie er vorher für das Land prägend gewesen sei.

Dass Gabriel so umstandslos bereit war, die Saudis zu brüskieren, passt zu den verbreiteten Vorbehalten gegen diesen Staat. In Deutschland bestimmen Meinungsmacher wie der Bestsellerautor Michael Lüders das Bild, die so gut wie alles Böse in der Region rund um Riad verorten, während man dem saudischen Rivalen Iran gegenüber äußerst freundlich und nachsichtig gestimmt ist (siehe Interview Seite 17). Über Jahrzehnte war das Klischee Saudi-Arabiens der seinen Ölreichtum verprassende »Scheich«; spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 ist das Bild des sunnitischen Gotteskriegers an diese Stelle getreten, der von ebenjenen Scheichs finanziert wird. Es dürfte in der Tat schwer fallen, selbst unter sunnitischen Arabern Stimmen zu finden, die spontan ihre Sympathien für dieses früher so abstrus reiche Land auf der arabischen Halbinsel erklären würden. Das Bild eines so »mittelalterlichen« wie religiös fanatisierten Landes mit unerträglicher Doppelmoral wird allerdings der komplexen saudischen Geschichte und Gegenwart nicht ganz gerecht. Mit dem Ölpreisschock der siebziger Jahre wurde ein Saudi-Arabien in die Moderne katapultiert, dessen beduinisch geprägte Gesellschaft bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts noch so lebte wie in den 1 000 Jahren zuvor.

Als Regionalmacht haben die Saudis im eigenen Verständnis einen Todfeind, die »Islamische Republik« Iran. Die vom Iran gesteuerte schiitische Offensive bringt sie in äußerste Bedrängnis; der Irak wird vom Iran aus mitregiert, der Libanon ebenfalls und der syrische Diktator Bashar al-Assad wäre ohne die iranische Unterstützung vermutlich 2012 gestürzt worden. Dass die Saudis nicht einfach zusehen werden, wie man den Iran letztlich unter beifälligem Nicken der EU und der USA zur bestimmenden Macht im arabischen Nahen Osten werden lässt, hätte klar sein können. Das Überleben Assads im Interesse des Iran und Russlands ist keine Vorstufe zur Befriedung der Region, sondern der Ausgangspunkt noch diffuserer Kämpfe.

Hier kommt der 32jährige saudische Kronprinz Mohammed bin Salman ins Spiel. Die Saudis haben plötzlich so etwas wie einen politischen Popstar, während sein Vater noch ganz dem Bild der saudischen Gerontokratie entspricht. Politisch hat bin Salman bisher wenig glücklich agiert, als Kriegsminister hat er die saudische Intervention im Jemen seit 2015 zu verantworten. Der verheerende Luftkrieg gegen die vom Iran unterstützen Houthis hat vor allem zu einer Verschlimmerung der humanitären Situation im Jemen geführt, dem nächsten Katastrophengebiet der Region. Millionen Menschen droht dort der Hungertod, die Choleraepidemie breitet sich weiter aus. Militärisch herrscht längst eine Pattsituation. Anfang November haben die Houthis eine aus dem Iran stammende Langstreckenrakete auf Riad abgeschossen, die gerade noch abgefangen werden konnte.

In einer öffentlichen Diskussion bezog sich der saudische Kronprinz kürzlich auf das Jahr 1979 und die Rückkehr zu einem toleranten Islam, wie er vorher für das Land prägend gewesen sei. In diesem für die Entwicklung des politischen Islam entscheidenden Jahr fanden nicht nur der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan statt und die Revolution im Iran; auch der moderne Jihadismus trat mit der Besetzung der Großen Moschee in Mekka ins Rampenlicht – ein Angriff, der auch gegen das saudische Königreich gerichtet war und vermutlich maßgeblich zu der verhängnisvollen Allianz zwischen Ölgeld und weltweiter salafistischer beziehungsweise wahhabitischer Mission geführt hat.

Mit bin Salman scheint nun in Saudi-Arabien einiges anders zu werden. Frauen dürfen demnächst Auto fahren, ein »Vision 2030« genanntes Entwicklungsprogramm verspricht den vollständigen Umbau des Staats, während die »Saudi General Entertainment Authority« mit einer Comicmesse, Stand-up-Comedians und einer Schlumpfshow schon mal für Stimmung sorgt. Die Popdiva Balqees, die auch Sonderbotschafterin der UN für Geschlechtergleichheit ist, tritt für ein weibliches Publikum auf und ein Werbefilm der staatlichen Eventagentur zeigt Szenen begeisterter weiblicher Konzertbesucherinnen. Nach saudischen Maßstäben ist das revolutionär; mit Demokratisierung hat das allerdings nichts zu tun, kein Oppositioneller ist bislang aus dem Gefängnis entlassen worden.

Auch die politischen Vorgänge der vergangenen Wochen waren umwälzend. Nach der Verhaftung zahlreicher, auch prominenter Prediger wurden hochrangige Angehörige des Königshauses, ehemalige Regierungsmitglieder und saudische Oligarchen wie der Chef der Firma Bin Laden in zwei Luxushotels unter dem Vorwurf der Korruption interniert. Es ist nicht ganz klar, ob es dabei eher um die Absicherung der Machtbasis bin Salmans oder um Finanzielles geht. Es sollen jedenfalls Hunderte Milliarden US-Dollar für den saudischen Staatshaushalt herausspringen, wenn die Festgesetzten Teile ihrer Firmen überschreiben. Natürlich gab es Witze darüber, dass die »Verhafteten« so luxuriös untergebracht wurden, nun sind jedoch Gerüchte aufgetaucht, einige der Betroffenen seien dort gefoltert worden, darunter ein Königssohn und ehemaliger Anwärter auf das Kronprinzenamt.

Auch wenn das kaum glaubhaft ist, ist es zumindest ein Hinweis auf bisher unerhörte Begebenheiten. Dazu gehört auch der Empfang des maronitischen Patriarchen aus dem Libanon in Riad. Die offiziellen Fotos zeigen wohl kaum zufällig den König im Gespräch mit dem Kirchenmann, der ein großes Kreuz an einer Halskette trägt. Anwesend war auch der saudische Außenminster Adel al-Jubeir, der ebenfalls seit 2015 im Amt ist und mit bartlosem Gesicht und feinem britischen Akzent beharrlich vor dem Iran warnt.
Wohin all das führen wird, ist ungewiss, niemand weiß sicher, wie die saudische Gesellschaft reagiert, wenn die starke sozial Kontrolle etwas gelockert wird. Die Jugend ist vorerst begeistert, dabei sind die wahhabitischen Hardliner keineswegs verschwunden, nur derzeit mundtot gemacht. Im Inneren steht Saudi-Arabien ökonomisch und demographisch unter Reformdruck. Was derzeit passiert, ist eine Folge des so gerne totgesagten »arabischen Frühlings«.

Wenn es um die Schiiten und den Iran geht, reagiert Saudi-Arabien hingegen unerbittlich. Das hat das quasi militärische Vorgehen gegen die schiitische Minderheit im Osten des Landes im Frühjahr gezeigt. Außenpolitisch ist die Strategie gegen das iranische Vordringen so dubios wie das Hin und Her um Hariri. Die schiitische Miliz Hizbollah jedenfalls würde eher davon profitieren, wenn es im Libanon erneut keine Regierung gäbe. Militärisch kann Saudi-Arabien dort nicht vorgehen; dass die israelische Armee diese Aufgabe übernehmen soll, ist nicht plausibel. Das Königreich könnte den Libanon ökonomisch destabilisieren, aber mit welchem Ziel? Die Isolation Katars hat vor allem dazu geführt, das Emirat in Richtung Iran zu treiben, aber bisher keine Zugeständnisse erwirkt. Im Jemen würde eine militärische Lösung Kapazitäten erfordern, die Saudi-Arabien nicht hat. Und in Syrien haben die Saudis praktisch keinen bewaffneten Ansprechpartner mehr. Es bleibt Israel als Verbündeter, mit dem man die Besorgnis über den Iran teilt. Womöglich bereitet bin Salman auch hier eine Sensation vor, Gerüchte über ein Abkommen machen bereits die Runde. Der Nahe Osten ist in einem Zustand angelangt, in dem man nichts mehr völlig ausschließen möchte.