Eklat um die Schach-WM in Saudi-Arabien

Schachmatt für Anna Muzychuk

Seite 2 – Ein Wandel, der von oben verordnet ist

 

Die Abhängigkeit vom Öl, die mit dem Reform­programm »Vision 2030« verringert werden soll, wird man ganz ohne Frauen nicht los. Nicht nur das Fahrverbot ist zuletzt gefallen; Frauen dürfen mittlerweile auch Sportunterricht erhalten, ohne Erlaubnis eines Mannes eine Arbeit annehmen oder ein Konto eröffnen und ins Stadion gehen. So neu, wie viele behaupten, ist diese Entwicklung nicht. »Saudi-Arabien wandelt sich nicht erst unter bin Salman, sondern schon seit zehn, 15 Jahren«, sagt Sons. »Es wird nur jetzt sehr viel aggressiver verkauft.« Er hält die Modernisierungsabsichten des Kronprinzen für ­ehrlich – und riskant. »Man darf die Menschen nicht überfordern. Bin Salman versucht, innerhalb kürzester Zeit die ganze Mentalität umzuwälzen. Das macht die Attraktivität seiner Politik aus, aber es ist ein Balanceakt: Saudi-Arabien ist sehr traditionell und in Stammesstrukturen ver­wurzelt.«

Im Gegensatz zum Iran, wo es in der Bevölkerung brodelt, ist der Wandel in Saudi-Arabien ein von oben verordnet. Ein Königshaus erzieht sich seine Bevölkerung. Und Mohammed bin Salman erzieht seinen ohnehin geschwächten Klerus. Entsprechend wenig Resonanz gab es auf den Boykott der Muzychuks. Vielleicht, weil schon eine Schach-WM mit Frauen und lockereren Kleidervorschriften Veränderung genug war; vielleicht, weil Schach in Saudi-­Arabien eben kaum jemanden interessiert. Sebastian Sons findet den Boykott dennoch wichtig. »Saudi-Arabien ist ein Land, das auf ausländischen Druck reagiert.« Und er sagt auch: »Ich denke, es ist sinnvoller, als Sportler vor Ort zu sein, um etwas sagen zu können. Ein Land nicht nur aus der Vogelperspektive anzuschauen und zu verurteilen, sondern selbst zu schauen.« Vielleicht hat Anna Muzychuk auch eine Chance verpasst: eine Chance, das Land zu ­erleben und selbst zu lernen – und dann zu kritisieren. Vielleicht ist das aber auch von einer Sportlerin zu viel verlangt.

Wem also nützt der Boykott? Der Protest der Muzychuk-Schwestern wirkt, im Gegensatz zu staatlich gewollten Boykotten, gut: Er dient nicht den schalen politischen Machtspielen von Verbänden, die ihre Spieler unter Druck setzen. Im Interview mit Paris Match betont Muzychuk, sie sei Sportlerin, keine Politikerin. »Das Wichtigste ist mir, dass ich mich frei fühle, wenn ich spiele.« Sie habe gehört, dass die Lage von Frauen in Saudi-Arabien sich bessere. »Ich komme gern, wenn die Frauen dort einen anderen Status haben als heute.« Das könnte sogar Wirkung zeigen: Für 2019 hat sich Saudi-Arabien erneut die Austragung gesichert. Wirkliche Gleichberechtigung kann man bis dahin im Land nicht erwarten; weiteren Wandel wohl schon. Wandel, sagt Kronprinz Mohammed, nicht Revolution. Sich selbst mattsetzen will er ja nicht. Es gibt etwas, was der Kronprinz gar nicht mag – Widerspruch.