Die #MeToo-Kampagne hat auch die 68. Berlinale erreicht

Die Berlinale als politische Anstalt

Die 68. Ausgabe des Filmfestivals greift die #MeToo-Kampagne auf und setzt sich für sexuelle Selbstbestimmung und gegen jeglichen Missbrauch ein.

Nachdem Dutzende Schauspielerinnen den US-amerikanischen Produzenten Harvey Weinstein etlicher sexueller Übergriffe bezichtigt haben, unterstützt das deutsche Filmfest die #MeToo-Kampagne, die »grundsätzlich zur Hinterfragung gesellschaftlicher Machtverhältnisse« führe, so Festivaldirektor Dieter Kosslick.

Man fühlt sich in der Pflicht. Auch der deutsche Filmemacher Dieter Wedel wird von Schauspielerinnen der sexuellen Nötigung beschuldigt. Kosslick selbst war in einem Blog-Beitrag von einer ehemaligen Mitarbeiterin der Belästigung bezichtigt worden. Der Beitrag wurde aber alsbald gelöscht.

Zu Weinstein gibt es immerhin Verbindungen: Aus seiner Produktion stammt der Gewinner des Goldenen Bären 2008, der brasilianische Spielfilm »Tropa de Elite«. Gründe genug für die Berlinale, jetzt eine Antidiskriminierungsseite einzurichten, die genau vier Adressen enthält, an die sich Betroffene wenden können.

Da das Berliner Filmfestival gern als politische Bühne genutzt wird, greift man die Debatte mit speziellen Programmpunkten auf. »Empowering Women Film Producers« heißt etwa eine Veranstaltung.

Die Journalistin Beate Willms hat in der Taz vorgeschlagen, die #MeToo-Debatte aus dem Kino herauszuführen und auf andere Branchen auszudehnen. Nicht nur das weibliche Filmpersonal leide unter Übergriffen, sie fänden überall auf dem Arbeitsmarkt statt, auch Hausangestellte, Stahlwerkerinnen und Wissenschafterinnen seien betroffen. Diese Erwartung wird das Festival vermutlich nicht erfüllen. Aber es geht dort immerhin darum, wirkungsvolle Bilder zu präsentieren, die solche gesellschaftlichen Diskurse symbolisieren.

 

Um deutlich zu machen, welch rabiate filmische Entwürfe dieses Festival bietet, hier noch der Film »Al Gami’ya« (Ägypten 2018): Dort hält das zehnjährige Mädchen Dunia eine flammende Rede für die Praxis der Genitalverstümmelung, gegen die sich der Vater vehement ausspricht.

 

In der Sparte Panorama, deren Anliegen es unter anderem ist, festgelegte Geschlechterrollen zu hinterfragen, versucht man dezidiert, neue Eindrücke zu vermitteln. Etwa mit dem kämpferischen Porträt der Sängerin M.I.A. (»Matangi«, GB 2018), die es tatsächlich geschafft hat, sich eine 16-Millionen-Dollar-Klage der US-Football-Liga einzufangen, weil sie – als Mitwirkende bei einer Show-Einlage von Madonna in der Halbzeit der Super Bowl 2012 – ihrem Ex für Sekundenbruchteile den Mittelfinger zeigte und dies on air zu sehen war.

M.I.A. ist die Tochter eines Gründungsmitglieds einer separatistischen tamilischen Guerillagruppe; im Film spricht ihr Vater Arul Pra­gasam davon, wie er zwischen den Kuscheltieren der Kinder Waffen und Sprengstoff nach Sri Lanka geschmuggelt hat. Wurde in der #MeToo-Debatte eigentlich auch schon mal über den bewaffneten Kampf nachgedacht?

 

Matangi, Berlinale

»Matangi« porträtiert die britische Sängerin und Produzentin M.I.A.

Bild:
Berlinale

 

Der gereckte Mittelfinger begegnet dem Publikum auch in dem indischen Film »Garbage« (2018): Eine in Ketten gelegte Leibeigene zeigt ihn der Kamera – nachdem sie ihn vor den Augen ihres Peinigers in Mens­truationsblut getunkt hat. Der Mann hat sie mit einem heißen Bügeleisen gefoltert. Zur Strafe wird er von einer Freundin anal vergewaltigt.

Um deutlich zu machen, welch rabiate filmische Entwürfe dieses Festival bietet, hier noch der Film »Al Gami’ya« (Ägypten 2018): Dort hält das zehnjährige Mädchen Dunia eine flammende Rede für die Praxis der Genitalverstümmelung, gegen die sich der Vater vehement ausspricht. Dunia besorgt hinter seinem Rücken Geld und lässt den gefährlichen Eingriff mit einer Rasierklinge durchführen. Der Grund: Damit ist sie erwachsen. Und bekommt ein eigenes Zimmer.

Dagegen macht die Berlinale in der Außendarstellung wenig her. Das Plakat, mit dem die Stadt zugekleistert ist, wiederholt seit drei Jahren die gleiche Motivserie. Der Berliner Bär tapst durch die Straßen, schaut mal hier, mal dort rein. Auf dem Hauptplakat badet er als Eisbär in einem Dachgarten. Das Bild ist mehrfach misslungen. Eispetz und warme Badewanne? Schon mal was von Klimawandel gehört? Oder war das schon eine kritische Anspielung? Außerdem ist es immer nur der Bär. Die in der Natur alleinerziehende Bärin mit Jungen kommt nirgends vor, der Transgender-Bär auch nicht.

Letztes Jahr war das auch schon krass. Da schubberte er sich den Pelz an einer der orange befliesten Säulen in der Unterführung am ICC. Ganz allein war er da. Tatsächlich leben dort Flüchtlinge und Obdachlose im Müll, auf dem Boden stehen die Urinpfützen. Jetzt soll der Tunnel zugeschüttet werden.

 

Berlinale, Al Gami’ya

»Al Gami’ya« erzählt von einem Mädchen, das beschnitten werden will

Bild:
Berlinale

 

Das Programm

 

Zum Programm: Den Wettbewerb und damit die gesamte Berlinale eröffnet ein schöner bunter Wes-Anderson-Film (»Isle of Dogs«, Großbritannien 2018), bevor es soziale und politische Themen hagelt. »Sieben Tage in Entebbe« (Großbritannien 2018) kümmert sich um antiimperialistische Kämpfe in den siebziger Jahren, »Black 47« (Irland 2018) thematisiert die irische Hungerkatas­trophe im 19. Jahrhundert, und »Eldorado« (Deutschland 2018) ist nah bei den Flüchtlingen im Mittelmeer.

Die Sektion Forum liefert einen vierstündigen Film über Uruguays Weg aus der Diktatur (»Unas preguntas«) und zwischen allerlei Standbildserien politische Alltagsbewältigung: Die Besucher am Treptower Ehrenmal der Roten Armee kriegen ihr Fett ebenso weg (»Den’ Pobedy«, Deutschland 2018) wie der ehemalige österreichische Kanzler Kurt Waldheim (»Waldheims Walzer«, Österreich 2018).

 

Seit Jahren kommt von deutschen Filmkritikern der Vorwurf, das Festival sei zu bedeutungslos in der Welt, weil es eine plakativ politische Diversity-Show sei. Mehr Bedeutung – soll das bedeuten, dass Deutschland als Export-Primus auch beim Kino die erste Geige spielt?

 

Unter den über 400 Filmen die Perlen herauszusuchen, ist ordentlich Arbeit. Selten hat man den Eindruck, dass die Sektionen miteinander kommunizieren – die Auswahl wirkt beliebig, wenn nicht chaotisch. Die Berlinale ist mit ihren vielen weiteren Reihen wie Retrospektive, Perspektive deutsches Kino oder ­Generation eher so etwas wie ein Filmfestival-Verbund. Den Freund von Filmen, die es ohne die Berli­nale nicht gäbe, freut es. Andere meckern, und es gibt schon einen Aufruf von Filmschaffenden, den langjährigen Direktor alsbald umweltschonend zu entsorgen. Darunter einige, die es ohne Dieter Kosslick ebenfalls gar nicht gäbe, zumindest nicht als Regisseure. Wer sonst würde zum Beispiel einen Film von Thomas Arslan in einen wichtigen Wettbewerb stecken? »Die Neubesetzung der Leitung«, schreiben die 79 Kosslick-Kritiker, »bietet die Chance, das Festival programmatisch zu erneuern und zu entschlacken.«

Filmschaffende möchten wirklich, dass es auf dem größten Publikumsfilmfestival der Welt gradliniger zugeht? Dass weniger Filme laufen? Ein interessanter Ansatz.

 

 

Berlinale, Mississippi Burning

Aus »Mississippi Burning«. Willem Dafoe wird mit einer Hommage geehrt

Bild:
Berlinale

 

Überhaupt, Leute. Seit Jahren kommt von deutschen Filmkritikern der Vorwurf, das Festival sei zu bedeutungslos in der Welt, weil es eine plakativ politische Diversity-Show sei. Mehr Bedeutung – soll das bedeuten, dass Deutschland als Export-Primus auch beim Kino die erste Geige spielt?

Auf der parallel zur Berlinale stattfindenden »Woche der Kritik« fragen die Filmexperten dieses Jahr nach so etwas. Und nach dem Publikum: »Wie Vorstellungen vom Publikum die Arbeit mit dem Kino prägen, was es heißt, bestimmte Besucherzahlen erreichen zu müssen und welche Auswirkungen es hat, sich als Publikumsfestival zu verstehen.« Das ist allerdings auch politisch, ebenso wie die Filme, die dort laufen. Berlinale und »Woche der Kritik« ergänzen sich bestens. Deren Homepage ist übrigens sehr schön und zeigt ein volles Autokino. Lauter Karren schauen in Richtung Leinwand. Anders als wir gucken die auch nicht. Man könnte uns durch Automaten ersetzen.

Die Antwort auf die Fragen nach dem Publikum ist schnell gefunden: Das schläft nachts vor dem Ticketschalter, kloppt sich um die Karten, rennt in die vollgestopften Vorstellungen, bricht jedes Jahr neue Besucherrekorde. Die Berlinale kriegt etwas ganz Besonderes hin: Sie kann jede filmische Standspur zeigen – Menschen, die sie sich ansehen, finden sich dennoch zuhauf. Und damit der Stoff Film bis in den letzten Winkel der Stadt dringt, hat sich Berlins Justizsenator Dirk Behrendt was Besonderes einfallen lassen. Die Berlinale zeigt ihre Filme dieses Jahr auch in den Knästen. »So können wir auch das Leben in Haft dem Leben in Freiheit ein Stück ­weiter angleichen.«

Ob das nötig ist, sei dahingestellt. Behrendts Knäste haben sich in den vergangenen Wochen als dermaßen durchlässig erwiesen, dass die Knackis sich die Karte auch am Ticketschalter besorgen könnten.