Víctor de Currea Lugo, Autor, im Gespräch über die Guerilla­gruppe ELN und deren Verhandlungen mit der kolumbianischen Regierung

»Niemand wird durch Zwang zum Revolutionär«

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Interview Von

 

 

Wie ist das Verhältnis der lokalen Bevölkerung zum ELN?
Das ist in den jeweiligen Regionen sehr unterschiedlich. In manchen Gebieten trifft man auf eine Gesellschaft, die im ELN eine Identität findet. Das sind ­keine Organisationen des ELN, sondern sie erkennen den ELN und dessen ­politischen Vorschläge als Autorität an. Es gibt andere Teile, die gelernt haben, mit dem ELN und seinen Regeln zu leben – eine passive Akzeptanz. Und es gibt Gesellschaftsteile, beispielsweise einige Indigene, die haben Angst vor ihm und fühlen sich bei dessen Präsenz nicht wohl. Diese Heterogenität gilt auch für den ELN selbst. Manche Einheiten sind sozialer orientiert, was das Verhältnis zu den Gemeinden betrifft, und hören ihnen zu, während andere Gruppen militärischer und damit vertikaler organisiert sind.

Warum schließen sich junge Menschen der Guerilla an?
Ein Aspekt ist, dass in Kolumbien Gewalt allgegenwärtig und Teil der politischen Kultur ist. Gewalt ist effizient und produziert ­unmittelbar Resultate. Zugleich ist Kolumbien eines der Länder der Welt mit der größten sozialen Ungleichheit. In vielen Regionen Kolumbiens sind die Menschen enorm frustriert und dort wirkt eine Guerilla, die revolutionäre Sym­bolik, eine Identität und eine Waffe anbietet, auf Jugendliche sehr anziehend.

Es wird immer wieder kritisiert, dass der ELN Minderjährige rekrutiere.
Ich will nicht die Rekrutierung Minderjähriger rechtfertigen, aber sie ist ­keine Erfindung der Guerilla. Ich halte diese Praxis für äußerst fragwürdig, aber juristisch gesehen ist die Rekrutierung ab 15 Jahren vom humanitären Völkerrecht gedeckt. Für viele Kinder und Jugendliche ist die Guerilla Teil der gesellschaftlichen Realität und sie ­treten freiwillig ein, weil sie keine andere Möglichkeit sehen. Aber wenn ich eine Gruppe Minderjähriger für das Erreichen einer besseren Welt einspannen will, gibt es meiner Ansicht nach bessere Wege, als ihnen eine Waffe zu geben. Es gibt da auch einen gewissen Opportunismus der Guerilla, die Verhältnisse auszunutzen, obwohl sie selbst kreativer sein könnte, wenn es um den Umgang mit Minderjährigen geht. Ausgenommen von dieser Einschätzung sind Zwangsrekrutierungen. Die sind absolut zu verurteilen und in einer Gruppe, deren Ziel die Revolution ist, auch nicht sinnvoll. Niemand wird durch Zwang zum Revolutionär.

Der ELN war früher kaum in den Drogenhandel verstrickt und verbot in von ihm kontrollierten Gebieten den Kokaanbau. Ist das heute immer noch so?
In einigen Regionen konnte man dies nicht durchsetzen, weil Koka Teil der kleinbäuerlichen Wirtschaft ist und man den Bauern ihre Lebensgrundlage entzogen hätte. Andererseits braucht der ELN natürlich Geld, und diese Notwendigkeit sorgt dafür, dass einige Einheiten oder einzelne Kommandanten besonders im Westen des Landes in den Drogenhandel eingestiegen sind, weil es ihnen ermöglicht, militärisch zu expandieren, Waffen zu kaufen etcetera. Der ELN fürchtet sich vor einem poli­tischen Verfall der Organisation, wie er bei den Farc zu beobachten ist, wo das Mittel zum Zweck wurde. Die Finanzierung durch den Drogenhandel beziehungsweise die Besteuerung des Anbaus führt zu Nachlässigkeit bei der politischen Ausbildung und einer Durchdringung der Organisation mit einer »Narcokultur«, kulturellen ­Praktiken und Formen, die wir in Kolumbien mit dem Drogenhändler und seiner Lebensweise assoziieren, etwa bestimmte Musik, Kleidung und die Zurschaustellung von Schmuck und teuren Autos.

Die Führung des ELN soll sich unbehelligt im Nachbarland Venezuela aufhalten, was dessen Beziehungen zu Kolumbien zusätzlich belastet. Welche Rolle spielt die »boliva­rische Revolution« in Venezuela für den ELN?
Der ELN ist kein Anhängsel des politischen Projekts von einst Hugo Chávez oder heute Nicolás Maduro. Die Präsenz der Guerilla in der Grenzregion ist viel älter als der erste Wahlerfolg der »bolivarischen Revolution«. Für zwei der militärisch stärksten Einheiten des ELN ist die Gegend heute ein strategisches Rückzugsgebiet, in dem sie sich mit einer gewissen Leichtigkeit be­wegen. In vielen Kommuniqués hat der ELN zudem seine Solidarität mit der »bolivarischen Revolution« zum Ausdruck gebracht, mit der er sich identi­fiziert. Darüber hinaus ist Venezuela einer der Garantiestaaten der Friedensgespräche und hat entscheidend dazu beigetragen, dass der Dialog beginnen konnte. Alle diese genannten Gründe machen Venezuela zu einem wichtigen Faktor für den ELN, der, auch wenn es intern verschiedene Sichtweisen gibt, den Prozess in Venezuela unterstützt.