Die Utopie eines demokratischen Internets hat sich nicht erfüllt

Der beschleunigte Gutenberg

Jede Meinung, jede Vorliebe und jeder abseitige Gedanke findet im Netz seine Anhänger. Wer sich dort gut organisiert, beeinflusst auch das gesellschaftliche Klima.

Ende Februar machten Aktivistinnen die Inhalte einer geschlossenen Facebook-Gruppe mit dem Namen »Ich wohne auf der richtigen Seite der Donau« öffentlich. Hunderte Screenshots zeigen einen Abgrund an Rassismus, Sexismus und Verherrlichung des Nationalsozialismus. Mordaufrufe gegen Minderheiten aller Art gehören in dieser Gruppe zum Alltag. Das ist zwar, wie Kenner der dunkleren Ecken der sozialen Medien wissen, nichts Außer­gewöhnliches, aber der Gruppe gehören auch viele Politikerinnen und ­Politiker von FPÖ, ÖVP und SPÖ an.

Wenn Vertreter aller drei großen ­österreichischen Parteien Mitglieder einer Facebook-Gruppe sind, in der man sich Vergasung und Ausrottung von Menschengruppen wünscht und Hitler zum Geburtstag gratuliert, lässt das auf eine fortgeschrittene Desensibilisierung der Politik gegenüber rechts­ex­tremen und neonazistischen Haltungen schließen und zeugt vom Erfolg der Strategie der neuen Nazis, ihre Ideologie mittels der sozialen Netzwerke gesellschaftsfähig zu machen – oder wenigstens den Anschein zu erwecken.

Das Londoner Institute for Strategic Dialogue untersuchte im Januar User-Kommentare unter Online-Artikeln und Facebook-Beiträgen großer deutsch­sprachiger Medien, darunter Bild, Kronen-Zeitung, Spiegel Online und Tagesschau.de. Das Resultat: Eine kleine, aber bestens organisierte Minderheit sei für einen Großteil der Hasskommentare verantwortlich und sorge dafür, dass diese durch die gezielte und verabredete Vergabe von Likes eine große Reichweite bekommen. Viele der besonders aktiven Accounts seien rechtsextremen Organisationen und Parteien wie den Identitären, der AfD oder der FPÖ zuzuordnen.

Seit 2014 überschwemmen rechte Trolle die Foren und sozialen Netzwerke. Sie versuchen, oft erfolgreich, Debatten zu manipulieren. Aus Einzelkämpfern ist eine Gruppe geworden, die mit fast militärischer Präzision gegen alles vorging, was ihr als links, linksliberal oder auch nur an den Menschenrechten ­orientiert und bürgerlich demokratisch erscheint. Dass 2014 auch das Jahr war, in dem der russische Geheimdienst seine Cyber-Offensiven begann, könnte Zufall sein.

Es wäre natürlich einfach, mit dem Finger auf Wladimir Putin zu zeigen und zu meinen, ohne russische Einmischung hätten wir jene Internetutopie, von der manche in den späten neun­ziger Jahren träumten: Das Internet als schier unerschöpfliches Reservoir an Wissen, aus dem immer mehr Menschen kostenlos schöpfen könnten, sowie als Werkzeug der Demokratisierung des Zugangs zu Informationen, die der technischen Revolution eine politische folgen lassen könne.

Tatsächlich wirkte das Internet vor allem seit der Erfindung des Smartphones als Beschleunigungsmedium, das die Gutenberg’sche Informationsrevolution im Zeitraffer wiederholte und eine Art globale Gleichzeitigkeit herstellte. Da sehr vieles im Internet im Gegensatz zu Druckwerken weder lektoriert noch zensiert wird, verbreiteten sich freilich nicht nur Wissen und schöne Gedanken in Windeseile rund um den Erdball, sondern auch ideologische Wahnvorstellungen. Wusste nun der homose­xuelle somalische Menschenrechtler, der gerne einen demokratischen Sozialismus hätte, dass er nicht allein war, so fanden Nazis, Islamisten, Impfgegner, Chemtrailparanoiker und Verbrecher jeder Variante erst recht Gleichgesinnte. Die Vertreter von Irrationalismus und Inhumanität waren schneller und erfolgreicher dabei, sich in Foren und Chatrooms zu finden, als die ewig zerstrittenen Linken und Demokraten. Welchen Einfluss dabei die vor allem in Europa weit verbreitete Technikfeindlichkeit vieler Linker und bürgerlicher Demokraten hatte, wird erst zu erforschen sein. Da es aber immer noch jede Menge Leute gibt, die in persönlichen Gesprächen stolz davon berichten, Facebook & Co. nicht zu nutzen (und dabei ebenso auf Distinktionsgewinn hoffen wie ihre Eltern, die dasselbe vom Fernsehen sagten), ist davon auszugehen, dass viele Bildungsbürger die ­politische Bedeutung der neuen Medien immer noch nicht verstehen.

Das World Wide Web war fast von Beginn an eine Mischung aus Jauchengrube und Universitätsbibliothek, aus Sexshop und Proseminar. Je nach psychosozialer Verfassung der User führte das zu unkuratiertem Nebeneinander von seriösen Informationen und brüllender Wahnproduktion. Während sich Menschen vor allem in Entwicklungsländern, autoritär geführten Staaten und Diktaturen ermuntert fühlten, ein besseres Leben im Hier und Jetzt einzufordern – sei es in Sachen demokratischer Mitbestimmung, sexueller ­Befreiung oder schlicht des Wunsches, auch mal in einem Land zu wohnen, in dem man sich ein schickes Auto erarbeiten kann, ohne dauernd Angst vor Geheim- und Sittenpolizisten haben zu müssen –, wuchs in den west­lichen Industriestaaten eine Generation heran, die sich vom Wandel, den das Netz beschleunigte, in ihren überkommenen Privilegien bedroht wähnte  – was vor allem für Männer gilt.

Zornige junge Männer machen auch einen Großteil der organisierten rechtsextremen Internetguerilla aus, die inzwischen so einflussreich geworden ist, dass sie oft die Meinungsbildung zuerst in Foren und sozialen Netzwerken und schließlich in der Gesellschaft beeinflussen kann.