»Is This the End?« Georg Seeßlens These vom Ende des Pop ist falsch

Das ist nicht das Ende!

Georg Seeßlen schreibt viel zu kulturpessimistisch über den Pop.

In seinem neuen Buch »Is This the End? Pop zwischen Befreiung und Unterdrückung« geht Georg Seeßlen  wie viele andere Journalisten vor, die die Wucht ihrer Äußerungen zu steigern versuchen, indem sie entweder einen »Anfang« von etwas entdecken oder noch lieber dessen »Ende« verkünden. Als Beleg ihrer Thesen führen sie dann Verweise wie »die erste Platte, auf der …« oder »die letzte Band, welche …« an, als ließen sich kulturelle Entwicklungen so präzise definieren wie die Maße des Urmeters.

Der Erfolg gibt ihnen allerdings recht. Denn spätestens seit Elvis Presley 1958 zur Armee ging und Kommentatoren darin das »Ende« des Rock ’n’ Roll erkannt haben wollten, entwickelten sich die vermeintlichen Abgänge von Stilen und Moden der Subkulturen zu einer Neuigkeit, mit der die auf aktuelle Ereignisse angewiesenen Nachrichtenmacher jedes Sommerloch und jede Sauregurkenzeit überstehen konnten. So leben Journalisten seit Jahrzehnten und bis heute vom Ende des Rock ’n’ Roll, des Beat, der Mod-Be­we­gung, des Psychedelic- und des Glam-Rock, vom Ende von Punk, Hip­Hop oder Techno, wie wir ihn kannten. Auch wenn das außer ­denen, die ein solches Ende behaupteten, nicht viele interessiert hat.

 

Sein Urteil über schreibende Kollegen fällt noch schlimmer aus, ihnen ist nicht nur die Wirklichkeit abhanden gekommen, sondern auch der Enthusiasmus. Popkritikerinnen und Popkritiker seien Menschen, die sich »von der jugendlichen Leidenschaft zurückgezogen haben und eine mehr oder weniger ironische Meta-Haltung einnehmen«.

 

Tobias Rapp stellte denn auch in seinem Buch »Lost and Sound – Berlin, Techno und der Easyjetset« 2009 fest, dass nach dem vermeintlichen Ende von Techno in der deutschen Hauptstadt einfach weitergefeiert wurde.

Das Ende war also nie das Ende, und jede irgendwann mal erfundene Musikrichtung feiert irgendwo auf dem Globus genau jetzt fröhliche Urständ. Nach wie vor springen Moriskentänzer in die Luft, Blasorchester drängeln sich in Fußgänger­zonen und Fans schmücken ihre Zimmer mit Plattencovern, T-Shirts und Trinkbechern, auf denen wahlweise Modern Talking oder Nirvana steht.

Seeßlen indes kommt weitgehend ohne Nennung von Bandnamen und Plattentiteln aus und bleibt stets vage. Kronzeugen seiner Theorie vom Ende des Pop stammen vor allem aus der Geistesgeschichte. Er ­beschreibt mit Jean Baudrillard die »Simulation«, die uns überall umgibt, und mit Mark Fisher die »Gespenster«, die in dieser Simulation herrumspuken. Wer sich für Pop interessiert, muss aus der Sicht Seeßlens dafür mit einem beträchtlichen Wirklichkeitsentzug bezahlen.

Es wirkt daher wie eine überanstrengte Bemühung, wenn sich Seeßlen der Wirklichkeit mit kruden, martialischen Bildern wieder anzunähern versucht. Der »prekär arbeitende Mensch« etwa wird »innerlich entbeint«. Und die Folgen der Beliebtheit von Musikern und Bands in den fünfziger und sechziger Jahren erinnern Seeßlen an eine »Gefängnisrevolte«, während ihm die kommerziell kaum weniger erfolgreichen späteren Stars von Abba bis Helene Fischer den Gedanken an »die Verteidigung einer belagerten Burg« eingeben.

Sein Urteil über schreibende Kollegen fällt noch schlimmer aus, ihnen ist nicht nur die Wirklichkeit abhanden gekommen, sondern auch der Enthusiasmus. Popkritikerinnen und Popkritiker seien Menschen, die sich »von der jugendlichen Leidenschaft zurückgezogen haben und eine mehr oder weniger ironische Meta-Haltung einnehmen«.
Die Autoren und Autorinnen von Testcard über Spex bis zu Pitchfork muss man sich also als schlaff kichernde, sich über sich selbst beömmelnde Drübersteher vorstellen, die nichts mehr wichtig nehmen außer ihrer Äquidistanz zum Inhalt jedes Rezensionsexemplars.

Da verwundert es nicht, dass solche Menschen mit Bezeichnungen wie »Autor« oder »Kritiker« für Seeßlen in viel zu große Schuhe steigen. Um nun aber eben diese Leute zu beschreiben, die zwar offenbar einer Tätigkeit nachgehen, doch dafür auf Schuhe beziehungsweise jede Wirklichkeit verzichten müssen, teilt Seeßlen sie in zwei Gruppen auf. Mitglieder der einen tun gut daran zu erkennen, dass es sich bei Autoren und Kritikern ebenfalls um Figuren aus einer womöglich tapferen, aber sich schnell entfernenden Vergangenheit handelt, die heutzutage im günstigsten Fall keiner bezahlt und die sich in allen anderen Fällen ähnlich großer Beliebtheit erfreuen wie Links­radikale.

Zu der anderen Gruppe gehören die Frauen, die lieber unecht sein wollen, als den dornigen Weg in die Wirklichkeit zu gehen. Lieber schwirren sie als »Mythos Helene Fischer« oder als »Kunst-Prinzessin« Lady Gaga um die Wirklichkeit herum, falls sie nicht gerade als »Brötchenbe­legerin« in einer »Simulation von Geschäftigkeit« feststecken.
Legt Popkultur es auf sowas an, oder kann Popkultur das ändern? Der Popkritiker weiß es nicht zu sagen, denn er wurde »gerade deshalb prekarisiert, damit er diese Fragen weder stellen noch verbreiten kann«.

 

 

»Is this the end?« fragt Georg Seeßlen in seinem Abgesang auf den Pop der Gegenwart. Lange machte man einen Unterschied zwischen Kulturindustrie und Pop. Was hatte Frank Zappa mit Dieter Thomas Heck zu schaffen? Pop sollte der dynamische Zwischenraum von Kunst und Alltagsverstand sein, Pop war auf der richtigen Seite. Aber das hat sich nun geändert, behauptet Seeßlen und spürt in allen ­gesellschaftlichen Bereichen nach, wohin sich Pop verflüchtigt hat. Aber stimmt die Diagnose von Seeßlen überhaupt?

 

Georg Seeßlen: Is This the End? Pop zwischen Befreiung und ­Unterdrückung. Edition Tiamat, Berlin 2018, 224 Seiten, 16 Euro