Der luzide Klassenbegriff bei Marx

Proletariat werden

Die verbreitete Überzeugung, Marx’ Vorstellung vom Proletariat sei verfehlt gewesen, verkennt den feinsinnigen Charakter des marxschen Klassenbegriffs. Eine Ehrenrettung.

Der 150. Geburtstag von Karl Marx stand noch ganz im Zeichen des Sozialismus. In der DDR war Marx der »größte Sohn des deutschen Volkes«. Gemeinsam mit Engels galt er als derjenige, der die »Grundlagen der wissenschaftlichen Weltanschauung der Arbeiterklasse« geschaffen hatte. Beim 200. Geburtstag von Marx ist die DDR und mit ihr ein Großteil des weltweiten Sozialismus verschwunden. An die »wissenschaftliche Weltanschauung der Arbeiterklasse« kann heutzutage nur noch glauben, wer in einer Phantasiewelt lebt. Aber das Interesse an Marx steigt wieder. Die Unesco hat sein Werk sogar in den Rang eines Weltkulturerbes erhoben.

Das muss kein Widerspruch sein. Die »wissenschaftliche Weltanschauung« kann als eine besondere Zuspitzung und Ausdeutung des marxschen Denkens interpretiert werden, die schon mit Engels begann und vor allem vom Marxismus-Leninismus gepflegt wurde. Trotzdem ist es auf den ersten Blick erstaunlich, dass im Zeitalter der fortschreitenden Deindustrialisierung westlicher Gesellschaften die Arbeiterklasse wieder zum Gegenstand der Auseinandersetzung mit Marx wird.

Patrick Eiden-Offe versucht, sie in seinem Buch »Die Poesie der Klasse« aus der Verengung auf das weiße, männliche Indus­triearbeiterproletariat zu befreien, die bei Marx ab 1859 eingesetzt habe. Jan Gerber analysiert hingegen in »Karl Marx in Paris« die Klassenanalyse des marxschen Frühwerks als ein fundamentales Missverständnis, das aus einer lokalen Besonderheit im Manchester der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts erwachsen sei. Beiden Autoren ist gemeinsam, dass sie Marx’ Blick auf das Proletariat mit der geschichtlichen Wirklichkeit vergleichen. Ihre Bücher verleihen der Überzeugung Ausdruck, dass – was immer an

Marx heute noch interessant sein mag – seine Vorstellung vom Proletariat und dessen weltgeschichtlicher Kraft verfehlt sei.

Marx hatte aber mindestens drei Vorstellungen vom Proletariat. Da sind die elenden und verarmten Massen, die ihm zeigen, dass an der bürgerlichen Gesellschaft etwas nicht stimmt. Marx verfügt nicht über die bürgerliche Kälte, die auf bettelnde Menschen am Straßenrand und die Verzweiflung der working poor mit einem gleichgültigen, mitleidigen oder genervten c’est la vie reagiert.

Erheben sich diese Ausgestoßenen als Gruppe, die in der bürgerlichen Gesellschaft nichts zu verlieren und nichts zu gewinnen hat, so erhebt sich der Mensch, der gegen die gesellschaft­liche Ordnung im Namen des Menschseins protestiert. Das Proletariat ist deshalb nicht nur elend und arm. Es ist die Antithese, der vollendete Gegensatz zur bürgerlichen Gesellschaft. Das so bestimmte Proletariat muss die bürgerliche Gesellschaft überwinden, wenn es sich Geltung verschaffen will. Diesen Gegensatz hat, so Marx, der Kapitalismus selbst hervorgebracht. Er erzeuge den gesellschaftlichen Ausschluss, er organisiere die Ausgeschlossenen, indem er sie dazu bringe zusammenzuarbeiten, und das Bürgertum schule sie im Kampf gegen den Feudalismus politisch.

Dieses phantastische Subjekt des Klassenkampfs muss sich in seinen Aufständen und Revolutionen weiter ­organisieren. Es findet seine wahren Inter­essen ebenso wie den Weg zu ­ihrer Durchsetzung selbst. Dabei bedarf es nicht des Beistands von ideologischen Führern und Gesellschaftsplanern.

Die revolutionäre Klasse sollte in ihren Auseinandersetzungen den Charakter des kompromisslosen Gegen­satzes bewahren. Marx erfindet die Figur der Klasse, die nichts anderes wollen kann, als ihren Klassencharakter zu überwinden. Nicht nur die ­englische Arbeiterklasse, Vorbild für das marxsche Bild des Proletariats, ging bereits zu Marx’ Lebzeiten einen anderen Weg. Weite Teile der Arbeiterklasse wollten kein unversöhnlicher Gegensatz zur bürgerlichen Gesellschaft sein. Sie wollten Teil der Gesellschaft werden.

Hat Marx sich also geirrt, was das Proletariat betrifft? Seine ökonomischen Analysen zeigen die Grenzen der ­Hoffnungen auf Integration der Arbeiterklasse. Immer wird sie arbeitend – und das ist ihre dritte Bestimmung bei Marx – die Situation reproduzieren, in der sie abhängig, ausgebeutet und der Mittel zu einem selbstbestimmten ­Leben beraubt ist, also: nicht nur frei, sich zu verkaufen, sondern auch frei von den Mitteln, sich nicht verkaufen zu müssen. ­Daran ändern Sozialstaat und betriebliche Mitbestimmung nichts.

Über dieses Elend, das einen eben nicht aus verdreckten Lumpen anschaut, mögen neue Arbeitsformen, mehr Urlaubstage oder ein höheres Gehalt zeitweise hinwegtäuschen. Die Ausgebeuteten und Unterdrückten müssen dennoch entscheiden, ob sie das hereinbrechende materielle und gesellschaftliche Elend einfach hinnehmen, ob sie ihm im Rahmen der Verhältnisse zu entkommen versuchen. Alle Optionen sind prinzipiell möglich. Die faschistischen Lösungen haben heute wieder Konjunktur. Aber für Marx kam nur eine Lösung in Frage: Proletariat werden!