Das Berliner Theatertreffen spiegelt die Krise des Theater

Wenn der Nazi »Beeep« sagt

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Müller verkündete 2015 noch, dass er überzeugt sei, dass »Chris Dercon die Erfolgsgeschichte der Volksbühne auch als Ensemble- und Repertoiretheater fortschreiben wird«, während die interne Planung eine ganz andere war. In der Folge versuchten vor allem Dercon und Piekenbrock, den großen Schwindel aufrechtzu­erhalten, indem sie die Begriffe Ensemble und Repertoire mit zweifelhaften Neuinterpretationen bis zur Unkenntlichkeit entstellten. Müller und Renner wiederum entzogen den beiden, einmal installiert, die Unterstützung und haben sich bis heute zu dem Fall nicht ausführlich geäußert. Recht behalten sollten so alle, die vermutet hatten, dass Dercon im Rahmen einer städtischen Aufwertungskampagne verpflichtet worden war, wahrscheinlich erhoffte man sich von dessen Kontakten auch üppige Sponsorengelder für den künf­tigen Veranstaltungsort Tempelhof. Die Volksbühne als Theater wieder aufzu­bauen, wird Mühe kosten. Ästhetisch wird von dem Zwischenspiel Dercons nichts bleiben. Politisch ist der Fall ein Lehrstück über die Funktion der Kunst für die Inwertsetzung der Stadt – und die Absichten sozialdemokratischer Kultur­politik.

Als Castorfs »Faust« das Theatertreffen eröffnete, mag das durchaus nostalgische Gefühle geweckt haben – Erinnerungen an eine Zeit, als in der Volksbühne Theater von Bedeutung gemacht wurde. Die Inszenierung gehört zu einer der besten der letzten Schaffensjahre von Castorf, sie verbindet in zahlreichen Überschreibungen den Faust-Stoff mit der Expansionsgeschichte des Kapitals, von der Kolonisierung bis hin zur Dekoloniserung, verknüpft Zitate von Émile Zola, Aimé Césaire, Frantz Fanon, Gillo Pontecorvo, Paul Celan und vielen anderen zu einem komplexen ästhetisch-historischen Verweissystem – in über sieben Stunden Aufführungsdauer. Heiner Müllers Stück »Der Auftrag«, das in zahlreichen Castorf-Inszenierungen zitiert wird, gibt den Ton vor. Dort heißt es: »Solange es Herren und Sklaven gibt, sind wir aus unserem Auftrag nicht entlassen.«

Erstaunlich allerdings, dass in den Diskussionen über Castorfs »Faust« weder die ästhetische Gestalt noch der Inhalt ernstlich debattiert wurden. Dafür wurde, den Vorstellungen der Me-Too-Kampagne folgend, kri­tisiert, dass die Frauen knapp bekleidet seien. Dass es sich dabei um eine künstlerische Inszenierung handelt, die etwas zeigt, wird ebenso ­ignoriert wie der Kontext der Inszenierung. Schon im vergangenen Jahr hatte sich beim Theatertreffen die eigenartige Begebenheit zuge­tragen, dass in Claudia Bauers Inszenierung »89/90« ein Neonazi dar­gestellt wird, der »Neger« sagt. Die Berliner Festspiele hatten das für die zweite Aufführung untersagt, der Nazi musste stattdessen »Beeep« sagen. Sollte man auf der Bühne nur darstellen, was man selbst für wünschenswert hält?

Ist es böse, das Böse zu zeigen? Der Dramaturg Bernd Stegemann hatte anlässlich der Eröffnung des diesjährigen Theatertreffens in der FAZ ­darauf aufmerksam gemacht, dass ein solcher Moralismus der Logik ­eines Erdoğan folge, der Journalisten deshalb verhaften lässt, weil sie beispielsweise über die PKK berichten. Die Berichterstattung über den Terror sei selbst Terror, so Erdoğan. Auf das Theater übertragen: Gezeigt werden darf nur, was der eigenen Wunschvorstellung entspricht. Wenn man alle Aussagen in einem künstlerischen Zusammenhang nur mittels moralischer Urteile begreife, wendet Stegemann ein, verhindere man die Diskussion sachlicher Widersprüche, letztlich das Denken selbst. Statt­dessen träfen nur sich gegenseitig ausschließende moralische Urteile aufeinander, der Logik des Fundamentalismus verwandt.

Ob sich das Theater aus dem Dilemma der moralischen Repräsentation zu befreien vermag, zugunsten einer ästhetischen Repräsentation, die Züge der gesellschaftlichen ­Utopie und nicht der bürokratischen Sachverwaltung trüge, ist zurzeit eine der drängendsten Fragen – wenn es um mehr als nur soziale Arbeit und City-Marketing gehen soll.