Für Präsident Erdoğan steht bei den türkischen Wahlen viel auf dem Spiel

Wählen im Ausnahmezustand

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Bei der konservativen Bevölkerung in Anatolien sind syrische Flüchtlinge sehr unbeliebt. In einer Konditorei in der Altstadt von Avanos läuft der Fernseher. Der Besitzer ist erbost über eine Nachricht, dass einige syrische Flüchtlinge zum Zuckerfest nach dem Ramadan auf Heimatbesuch waren. »Wenn sie Besuche machen können, dann sollen sie auch gleich dableiben«, brummt Osman Aksakal. Auch wenn Syrer außerhalb der Flüchtlingslager in der Türkei keinerlei staatliche Unterstützung bekommen, werden sie dennoch von vielen als Störfaktor und Schmarotzer gesehen. Allein die Militäroperation in Afrin gegen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) dient noch als versöhnliches Thema, um dem Frust vieler Türken entgegenzuwirken.

Zwei Wochen vor den Wahlen sprach Präsident Recep Tayyip Erdoğan in der Provinzhauptstadt Nevşehir vor einem Publikum, das freudig applaudierte, wenn er gegen die kurdische Minderheit und die PKK hetzte. Die Leute schienen dagegen verwirrt, als er Hacı Bektaşı, einen der wichtigsten alevitischen Philosophen und Dichter der Region, als über die Landesgrenzen hinauswirkenden Prediger des Friedens bezeichnete. Die AKP versucht derzeit auch die Aleviten zu umgarnen, die immerhin 15 Prozent der türkischen Bevölkerung ausmachen. In diesem Wahlkampf erkannte die AKP die von den Islamisch-Konservativen als Häretiker geschmähte religiöse Minderheit erstmals offiziell an und bot staatliche Unterstützung für ihre Gemeindehäuser, die »Cemevi«, an. In der Vergangenheit hatte es seitens der Regierung des Öfteren geheißen, die Aleviten ­sollten doch in den Moscheen beten.

Das anatolische Alevitentum bildet die zweitgrößte Religionsgruppe im Land. Neben einer besonderen Verehrung des von den Schiiten verehrten Schwiegersohns Mohammeds, Ali, charakterisiert die Aleviten in der Türkei auch die Ablehnung zentraler sunnitischer Regeln, wie des Fastens im Ramadan und des rituellen Gebets. Die Aleviten halten kollektive Gottesdienste im Cemevi ab und messen der Musik und dem »Sema«, einer tänzerischen Gebetsform, eine zentrale spirituelle Bedeutung bei. In der Geschichte gab es immer wieder Aufstände der Aleviten in Anatolien gegen die sunnitische Führung im Osmanischen Reich  und grausame Pogrome. Im 16. Jahrhundert sollen auf Geheiß des Sultan Yavuz ­Selim 40 000 Aleviten ermordet worden sein. Als Präsident Erdoğan vor zwei Jahren die dritte Hängebrücke über dem Bosporus als Yavuz-Sultan-Selim-Brücke einweihen ließ, kritisierten Vertreter der Aleviten das als Affront. Seither hat sich das Verhältnis der politischen Kräfte in der Region zu Ungunsten der Regierung entwickelt. Die Regierung versucht nun, sich Forderungen der Opposition anzueignen.

Nach den Parlaments- und Präsidentenwahlen am 24. Juni soll der seit zwei Jahren geltende Ausnahmezustand in der Türkei aufgehoben werden. Zuerst hatte dies die Opposition für den Fall ihres Wahlsiegs angekündigt. Nun hat es auch Erdoğan versprochen. »Wenn ich die Berechtigung zum Weiterregieren erhalte, wird unser erster Schritt sein, so Gott will, den Ausnahmezustand aufzuheben«, sagte der Präsident in einem Fernsehinterview. Die mittlerweile von einem regierungsnahen Konzern gekaufte Zeitung Hürri­yet schrieb: »Das ist eine der größten Überraschungen der Wahlkampagne.«

Seit dem Putschversuch im Juli 2016 gab es sieben Verlängerungen des Ausnahmezustands. Während dieser Zeit wurden mehr als 50 000 Menschen verhaftet, mehr als 140 000 haben ihre Stellung im Staatsdienst verloren, ­darunter nicht nur mutmaßliche Putschisten, sondern auch oppositionelle Aktivisten, Juristen und Journalisten. Mehr als 2 100 Menschen wurden wegen des Putschversuchs verurteilt, etwa 1 500 von ihnen zu lebenslanger Haft. Die Uno hat die Türkei unlängst aufgefordert, den Ausnahmezustand rasch zu beenden, es sei schwer vorstellbar, wie sonst glaubwürdige Wahlen stattfinden könnten. Erdoğan hatte jedoch immer wieder erklärt, solche Forderungen würden nur »den Terror« unterstützen.  

»Für Erdoğan ist dies ein mehr als entscheidender Wahlkampf«, sagt ­Tokmak. »Er wird mit allen Mitteln versuchen zu gewinnen.«