In der Debatte um den Zarenmord wird antisemitisch argumentiert

Das Gegenteil von Aufklärung

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Seitdem entstanden in Exilkreisen immer neue Varianten der Ritualmordthese. Bereits während des Bürgerkriegs verbreitete der Monarchist und Vertraute des Automobilherstellers Henry Ford, Boris Brasol, die These von der jüdischen Verschwörung als Ursache für die Revolution.

Der Esoteriker Michail Skarjatin veröffentlichte unter dem Pseudonym Enel die angebliche Entschlüsselung der Zahlenreihen aus dem Ipatjew-Haus: »Hier wurde der Zar auf dem Befehl der geheimen Kräfte geopfert, zwecks Zerstörung des Staates. Hiermit werden die Völker in Kenntnis gesetzt.« Diese Darstellung übernahm der russische Emigrant und SS-Mann Gregor Schwartz-Bostunitsch, der das Buch von Skarjatin durch seine Übersetzung in Deutschland bekannt machte.

1990 wurde Skrajatins Text zum ersten Mal in der Sowjetunion abgedruckt. Zu dem Zeitpunkt existierten mehrere Ritualmordteorien nebeneinander. Mal diente die angebliche Zerstückelung der Leichen als Beweis, mal die angebliche Verbrennung, mal die Herkunft des Leiters des Kommandos, mal das Datum, an dem die Erschießung stattgefunden hatte.

Der russische Autor Pjotr Multatuli hat sich wie kein anderer in den ­vergangenen Jahren dafür eingesetzt, dass die Ermittlungen im Mordfall von Nikolaus II. und seiner Familie neu aufgenommen werden. Der ehemalige Ermittler Multatuli besann sich auf seinen erlernten Beruf als Geschichtslehrer und schreibt nun ein populärhistorisches Buch nach dem anderen.

Seine Leidenschaft für das Thema erklärt Multatuli aus seiner Biographie. Er ist der Urenkelsohn des ebenfalls hingerichteten Kochs des Zaren. In den vergangenen Jahren stieg die Bekanntheit Multatulis rasant an. Sein Schwerpunkt ist die Kritik an den Ermittlungen der neunziger Jahre. »Zurück zu Sokolow« ist seine Devise. Multatuli wirft den Experten, die die Ritualmordthese ablehnen, vor, die Ergebnisse der weißgardistischen Ermittlungskommission aus politischen Gründen zu ignorieren. Die Spuren zur »satanistischen Kabbala« seien nicht weiterverfolgt worden. Skarjatins Thesen werden durch Multatuli erfolgreich popularisiert. Inzwischen zitiert auch die für ihre Zarenverehrung bekannte Duma-Abgeordnete Natalja Poklonskaja die Entzifferung der »geheimen Zeichen« als angebliches historisches Dokument.

Für die zahlreichen Proteste gegen die Verwendung des Begriffs Ritualmord scheint Bischof Tichon gewappnet zu sein.

Zeitgemäß wird mit der Umdeutung der Begriffe gearbeitet. Man behaupte ja nicht, so der Kirchenmann, dass es ein jüdisches Ritual gewesen sei. Dem Würdenträger zufolge war es »ein revolutionäres Racheritual«. Auf die Kritik der jüdischen Organisationen entgegnete er, gemeint sei ein »atheistischer Racheakt« gegen den Zaren. Schließlich seien Besuche im Leninmausoleum auch nur Rituale, was beweise, dass man keiner Konfession angehören muss, um Rituale zu zelebrieren. Im Vergleich zu den Ritualmordtheorien der Vergangenheit werden »die Juden« heute eher selten als explizit Schuldige benannt. In zahlreichen Publikationen zum Thema geht es häufiger um ominöse »Satanisten«, »Freimauer« oder gar »Atheisten«. Harmloser sind die Theorien deswegen keineswegs geworden. In vielen Fällen handelt es sich lediglich um Codes, die dazu dienen sollen, Antisemitismusvorwürfe zu vermeiden. Einige Autoren behaupten, »gewöhnliche« Juden wurden zwar keine Menschenopfer bringen, aber Kabbalisten, Mitglieder der Loge B’nai B’rith oder ­Zionisten schon. Doch die Versionen, die nicht so eindeutig in der Benennung des Feindes ausfallen, sind bei näherer Betrachtung noch perfider. Sie sind noch weniger zugänglich für Fakten, weil sie sich von der Realität noch weiter entfernen als die »klassischen« Verschwörungstheorien. Die Frage, ob es 1918 in Russland überhaupt praktizierende Satanisten gab, stellt sich gar nicht, wenn jeder die Lücken in der Erklärung mit seinen eigenen Phantasien und Feindbildern ausfüllen kann.

Auch nachdem das Ermittlungs­komitee die Überreste für authentisch erklärt hat, laufen die Ermittlungen in der Sache Ritualmord weiter.