Ein Besuch bei einer Land­kommune, die nicht als solche bezeichnet werden will

Landwirtschaft von links

Die Kooperative »Hof Ulenkrug« in Mecklenburg-Vorpommern ist Teil der »Longo maï«-Bewegung. Die Bewohner betreiben Landwirtschaft mit politischem Anspruch.
Reportage Von

Von der sandigen Landstraße geht es rechts ab auf einen kleinen Weg zur Kooperative »Hof Ulenkrug«. Links der Einfahrt stapelt sich gehacktes Holz unter Planen. Auf der rechten Seite befindet sich der Schaugarten, in dem Soja und Getreide aus altem, für industrielle Landwirtschaft uninteressant ­gewordenem Saatgut wachsen – zum Anschauen, nicht zum Ernten.

Den Weg weiter hinunter stehen die Maschinen. Bei einem altem Gehöft parken ein Traktor und ein Bagger, ­neben dem zwei Kinder spielen, dazu ein Mähdrescher, der frischgeputzt glänzt. Auf einer Einfahrt liegt, inmitten von Werkzeug, ein Boot, das gerade ­repariert wird. Es bietet sich ein Anblick voller Landromantik.

Der Hof liegt tief in Mecklenburg-Vorpommern, er hat die höchste Hausnummer eines kleinen Dorfs, in dem es keine gesonderten Straßennamen gibt. Der Ulenkrug ist ein Hof der alten Schule, ein Anwesen mit einigen ­Gebäuden, rundherum die Ländereien, links die Weiden, rechts der Acker, nach hinten der ausladende Garten und ein kleines Stück Wald, 52 Hektar insgesamt; der benachbarte Betrieb ist dagegen 3 000 Hektar groß. Obst, ­Gemüse und Weizen werden angebaut, dazu besitzt man eine kleine Kuh­herde, einige Schafe und Lämmer, ein paar Schweine, Geflügel. Zwei Pferde und einen Ochsen zum Ziehen von landwirtschaftlichem Gerät gibt es, zusätzlich zu den großen Maschinen. In den Häusern gibt es eine Metall- und eine Holzwerkstatt, der Hof verfügt über ­einen Kulturraum, einen eigenen Klärteich und eine Schlachterei.

Die Flucht auf die Scholle ist nicht das, was die Menschen hier auf dem Hof suchen.

Das Modell eines Hofs, der zentral in seinen Ländereien liegt, ist fern von der Realität agrarwirtschaftlicher Großbetriebe. Für deren gewinnorientierte Wirtschaftsweise ergibt ein solcher Aufbau keinen Sinn.
Es geht beim Ulenkrug aber auch nicht um den marktwirtschaftlichen Zweck, sondern eher um einen gesellschaftliches Anliegen. Es ist kein Betrieb, sondern eine Kooperative, in der eine Stammbesetzung aus 24 Erwachsenen und fünf Kindern versucht, kollektiv und gleichberechtigt ein Leben nah an der Selbstversorgung zu führen. »Es ist nicht unser Ziel, autonom zu sein«, sagt Hofbewohnerin Ieke, »aber zu wissen: Das wollen wir machen und wir machen das.« Sie hat ihr blondes Haar mit einem bunten Tuch zurückgebunden, ihre Haut ist, wie bei den meisten hier, von Sonne und Wetter gegerbt. Sie lebt auf dem Hof seit seiner Gründung 1995, seit 1982 ist sie Teil der Bewegung »Longo maï«, zu der der Ulenkrug ­gehört. Der Name ist ein Bauerngruß aus der Provence, »es möge lange ­dauern«, bedeutet er. Mehr als 40 Jahre existiert die Bewegung bereits, in der sich landwirtschaftliche Kooperativen vernetzen, austauschen und gemeinsam politisch arbeiten.

»Longo maï « entstand 1973, als Lehrlinge, Schüler und Studenten versuchten, Ideen von ’68 in eine praktische, politische Form geben. Auf dem Hof in Mecklenburg lebt auch Jost, der als Druckerlehrling an der Gründung der ersten Kooperative beteiligt war. Mit seinen grauen Haaren und dem grauen Overall ist er sichtbar einer der ältesten Bewohner des Hofs. »Wir haben uns damals gesagt, wir machen irgendwo ein selbstbestimmtes Projekt. Dort, wo der Kapitalismus einen weißen Fleck gelassen hat, machen wir Landwirtschaft, um uns selbst zu ernähren, Streiks zu unterstützen und um auszustrahlen. Von Anfang an haben wir ­gesagt: Wir sind keine Landkommune, wir sind ein ­Politkollektiv.«

In Südfrankreich fanden sie einen Hügel, der einem Kobattanten des ­Algerien-Kriegs als Belohnung für die Kollaboration gegeben worden war, kauften diesen und gründeten die erste Kooperative. Nur wenige Monate ­später putschte das chilenische Militär gegen die sozialistische Regierung von Salvador Allende. Jost und seine Mitstreiter und Mitstreiterinnen orga­nisieren die Ausreise politisch verfolgter chilenischer Kommunisten nach Deutschland und in die Schweiz. Mittlerweile zählen neun Kooperativen in verschiedenen Ländern Europas zum Kern von »Longo maï«, mit vielen ­anderen stehen sie weltweit in engem Kontakt.

Sonntags ist Versammlung im Ulenkrug und die Bewohner und Bewohnerinnen planen ihre Woche: Was steht an, wer kommt zu Besuch und wer braucht Geld aus der Gemeinschaftskasse? Niemand bekommt Lohn für die Arbeit auf dem Hof. Was nicht selbst verbraucht wird, wird verkauft, der ­Erlös geht in die Gemeinschaftskasse. Jeder fühlt sich für bestimmte Bereiche besonders verantwortlich und kümmert sich um diese. Nur beim Putztag und den übergreifenden Aufgaben wie dem Holzschlagen arbeiten alle gemeinsam.

Beim Mittagessen sitzen vor dem alten Gutshaus ein Dutzend Menschen zusammen, in großen Metallschalen steht das Essen auf den Tischen. Es gibt Gulasch aus eigener Schlachtung. Das Gemüse dazu ist selbstgezogen. Nur die Nudeln sind gekauft – von einer Kooperative in Italien. Wer nicht der autarken Selbstversorgung huldigt und von der Welt nichts mehr wissen will, kommt um Geld nicht herum, das wissen die Leute hier. Gespräche behandeln oft die Arbeit auf dem Hof. Gerade geht es darum, dass dieses Jahr ­Trockenheit und Hitze einen Teil der Ernte be­drohen. Seit Wochen hat es nicht geregnet. Voriges Jahr hat es dagegen zu viel geregnet. Der Acker wurde weggespült und Teile des Gartens überschwemmt. »Für einen Bauern gibt es nie das richtige Wetter«, witzelt ­einer aus der Runde.

Nach dem Essen bleiben die spielenden Kinder zurück. Der Rest der Gruppe macht sich unter der Nachmittags­sonne wieder an die Arbeit, um das Unkraut am Weg zu jäten, Bohnen zu ­ernten oder die Tiere zu füttern.

Als Romantiker wollen sich die Bewohnerinnen und Bewohner nicht ­sehen. »Die Trennung zwischen Lohnarbeit werktags und dann abends oder am Wochenende Politik zu ­machen, das wollen wir aufheben«, sagt Jost. »Hierarchien da abbauen, wo es geht, und da anerkennen, wo sie sinnvoll sind. Wer sich mit Kühen auskennt, kennt sich eben mit den Kühen aus. Natürlich gibt es da auch mal ­Diskussionen, auch mal Streit.« 

Hin und wieder konnten Konflikte auf dem Hof in der Vergangenheit nur mit ­externer Moderation geklärt werden. »Manchmal haben auch Leute einfach ihre Koffer gepackt und sind gefahren«, sagt Jost. Auf die Frage nach Faulenzern folgt erst ein Kichern. »So jemanden gibt es hier eigentlich nicht«, sagt Jule. »Wenn man so eng miteinander lebt, gibt es natürlich eine soziale Kontrolle. Das klingt sehr negativ, ich würde aber sagen, man puscht sich eher im Positiven.«

 

Den Hofalltag, die Selbstversorgung und die ökologischen Aufzucht- und ­Anbaumethoden verstehen die Bewohner und Bewohnerinnen als Versuch, ihr persönliches Streben nach Glück und Leben im Kollektiv mit einem ­politischen Anspruch an Zusammenleben, Ökologie und Ökonomie zu ­verbinden. Das Ziel sei, »politische Einstellung mit dem in Einklang bringen, was man lebt«, sagt Jost. Der Hof versorgt sich selbst mit Solarstrom, wirtschaftet so, dass der Boden und die Nährstoffe in ihm erhalten bleiben. Pestizide und Kunstdünger werden nicht verwendet, stattdessen gibt es ­einen Misthaufen, auf dem große Kürbisse wachsen. Die Tiere verbringen ihr Leben in großzügigem Freilauf. ­Beschauliche Idylle ist aber nicht das, was die Menschen hier auf dem Hof ­suchen.

Das »Ausstrahlen«, wie Jost es nennt, gehört genauso zum täglichen Leben wie die Ernte oder dass jeder einmal pro Woche kocht. Ausstrahlen heißt, politische Arbeit auch außerhalb des Hofs zu machen. Seit seinem Bestehen ist der Ulenkrug in der Geflüchteten­politik aktiv, unterstützt selbstorganisierte Projekte und Initiativen von ­Geflüchteten und bietet individuelle Unterstützung.

Niemand verbringt alle zwölf Monate im Jahr in derselben Kooperative.

Seit im nahegelegenen Demmin die NPD immer am 8. März Demonstrationen abhält, engagiert sich der Hof auch im Bündnis »Demmin nazifrei« und arbeitet mit anderen antifaschistischen Projekten in Mecklenburg zusammen. Selbstverständlich sind auch Klimapolitik, Saatguterhaltung und die Kritik an großen Agrarkonzernen wichtige Themen für die Bewohner. Sie betreiben eine intensive Vernetzung mit Bauern weltweit. Vor allem mit Kollegen in Afrika und Lateinamerika, wo Bauern noch stärker auf patentiertes Gensaatgut angewiesen sind, tauschen sie sich über selbstbestimmte Landwirtschaft aus. Auf Augenhöhe, wie nachdrücklich versichert wird. Ein dauerhaftes Projekt, in dem Agrarthemen und antirassistische Arbeit zusammenlaufen, ist der Kampf gegen die Ausbeutung illegalisierter Landarbeiter und Landarbeiterinnen in Rumänien, Italien oder Spanien.

Ieke und Julienne führen mich über das Gelände, zeigen die inzwischen leeren Bienenkörbe, das von Kirschbäumen überwachsene Hühnergehege, die Kohlbeete und den kleinen Forst. Julienne ist in einer »Longo maï«-­Kooperative geboren und aufgewachsen. Mit 18 verließ sie diese und kehrte 15 Jahre später zurück. Viele leben zu verschiedenen ­Zeiten in verschiedenen Kooperativen. Der rege Austausch zwischen den Projekten ist Teil des Konzepts. ­Eigentlich verbringt niemand zwölf Monate im Jahr am selben Ort. Die Menschen aus den Kooperativen gehen mal nach Frankreich zur Weinernte und mal in die Ukraine, um Ziegen zu hüten. So nähern sich die knapp 200 Mitglieder, die über die Kooperativen verteilt sind, einander an. Und so ergibt sich auch eine politische Perspektive, über Grenzen hinweg.

Irgendwann regnet es dann doch noch, nicht viel, aber immerhin. Ieke sitzt auf einem Tisch hinter dem ehemaligen Schweinestall und freut sich darüber. Sie ist für Getreide am Hof ­zuständig und engagiert sich mit einem anderen Bewohner in der Saatguterhaltung. Als die landwirtschaftliche Gendatenbank 2006 begann, genmodifizierte Sorten aufzunehmen und damit den Erhalt der alten Sorten gefährdete, organisierte Ieke im Jahr darauf eine Konferenz. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer beschlossen, die Aufgabe der Genbank selbst zu übernehmen. Viele der 150 Teilnehmer, die damals ­Patenschaften für Getreidesorten übernahmen, sind mittlerweile nicht mehr dabei. Der Ulenkrug ist aber geblieben. Gemeinsam sähen Ieke und ihr Mitstreiter die Sorten aus und katalogisieren sie. Inzwischen ziehen sie auch Kreuzungen. Während der Arbeit fliegen immer wieder die Schwalben knapp über die Köpfe hinweg. Ihre Nester haben sie überall in den Häusergiebeln des Hofs gebaut. Naturromantik, die hier selbstverständlich dazugehört.