თემა - In vielerlei Hinsicht werden heute in Georgien politische Kämpfe geführt

Zwischen allen Stühlen

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Bundeskanzlerin Angela Merkel besichtigte bei ihrem Besuch in Georgien vor knapp zwei Wochen auch die südossetisch-georgische Demarkationslinie. Sie war aber merklich darum bemüht, georgische Hoffnungen auf einen baldigen EU-Beitritt zu bremsen. Auch eine Aufnahme in die Nato ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Beide ­Organisationen wollen keine Staaten aufnehmen, die nicht ihr gesamtes ­Territorium kontrollieren – Russland dürfte dafür sorgen, dass dies im Fall Georgiens so bleibt.
Andererseits haben Nato und EU ein Interesse an der Westbindung Georgiens, von der das Land ökonomisch und politisch profitieren könnte. Die wirtschaftliche Lage ist weiterhin desolat, wenngleich die chaotischen Zustände der neunziger Jahre überwunden wurde. Während der Präsidentschaft Eduard Schewardnadses blieb Georgien eines der ärmsten Länder Europas. Gelder des Internationalen Währungsfonds und der EU versickerten in dunklen Kanälen, die Korruption blühte, die Infrastruktur verfiel und die Fabriken schlossen. Landesteile wie Abchasien, Südossetien und Adscha­rien wurden faktisch autoritär regierte Zwergstaa­-ten, die sich der Kontrolle der Zentralregierung in ­Tiflis entzogen.

Der 2004 zum Präsidenten gewählte Micheil Saaka­schwili profilierte sich zunächst als Modernisierer. Unter Westorientierung verstand er aber vor allem eine extreme Variante des Wirtschaftsliberalismus, wie sie in keinem westlichen Land praktiziert wird. Er reformierte die zuvor maßlos korrupte Polizei. Zahlreiche Beamte wurden entlassen. Wer neu eingestellt wurde, bekam ein deutlich höheres Gehalt und an die US-amerikanische Polizei erinnernde Autos und Uniformen. Saakaschwili ließ außerdem das Straßennetz ausbauen und neue Wasserkraftwerke errichten, um die Energie­unabhängigkeit zu sichern. Dadurch gelang es ihm, den wirtschaftlichen Niedergang des Landes aufzuhalten. Trotzdem haben seit dem Zerfall der Sowjetunion wegen der Deindustria­lisierung etwa eine Million Georgier das Land verlassen (siehe Seite 8).

Saakaschwili regierte äußerst autoritär. Politische Gegner landeten schnell in den Gefängnissen, lange Haftstrafen, Folter und Misshandlungen gehörten zur Normalität.

Zum Diktator aber konnte Saakaschwili sich nicht erheben. Er bequemte sich zu einer sehr eingeschränkten politischen Liberalisierung, Bekenntnisse zu diversity policy gehörten dazu. Seine desaströse Strategie im Konflikt mit Russland 2008, die Putin einen Vorwand für einen großangelegten Feldzug lieferte, kostete ihn viel Popularität; auch sein autoritärer Regierungsstil erregte immer mehr Missmut. Nach zwei Amtszeiten als Präsident durfte Saakaschwili 2013 nicht erneut kandidieren.
Unter seinem Nachfolger Giorgi Mar­gwelaschwili verbesserte sich die Menschenrechtslage, die wirtschaftsliberale Politik wird weitergeführt. Viele Georgierinnen und Georgier messen Wahlen, Parteien und Präsidenten aber keine allzu große Bedeutung zu. Als inoffizieller Staatschef gilt Bidsina Iwanischwili, ein milliardenschwerer Oli­garch, zeitweilig Ministerpräsident und derzeit Vorsitzender der Partei Georgischer Traum.

Die auch im Stadtbild von Tiflis symbolisch repräsentierte Westbindung – vor jedem georgischen Regierungsgebäude flattert neben der Landesfahne auch die der EU – ist vor allem eine realpolitische Notwendigkeit. Man erhofft sich Schutz vor Russland, Hilfsgelder und wirtschaftliche Chancen. Das Verhältnis des politischen Führungspersonals wie auch eines großen Teils der Bevölkerung zu liberalen Prinzipien hingegen ist bestenfalls zwiespältig. Die georgisch-orthodoxe Kirche füllte das ideologische Vakuum, das die ­KPdSU hinterlassen hatte, der Staat gestand ihr eine rechtlich privilegierte Stellung zu (siehe Seite 6). Als Ilia II. 1977 Patriarch der Georgischen Orthodoxen Kirche wurde, gab es kaum noch Priester im Land. Inzwischen prägen die bärtigen Popen in ihren schwarzen Roben wieder das Straßenbild, die Orthodoxie ist zu einem bedeutenden Macht- und Wirtschaftsfaktor geworden. Der Klerus hält nichts von liberalen Grundsätzen und folgt weitgehend dem autoritären Vorbild des ebenfalls orthodoxen Russland. Das äußert sich vor allem im Kampf gegen sexuelle Selbstbestimmung und die Rechte von LGBT-Per­sonen.

Noch vor fünf Jahren führten Geistliche am Internationalen Tag gegen Homophobie und Transphobie einen gewalttätigen Mob zum

Angriff auf eine kleine Zahl von queeren Aktivisten, darunter auch Kikonischwili. In der jüngsten Auseinandersetzung um die kurzzeitige Schließung des Bassiani hat sich die Kirche hingegen zurückgehalten. Allerdings demonstrierten gegen den Rave vor dem Parlament einige Hundert extreme Rechte. In Georgien existieren zahlreiche rechtsextreme Gruppen. Sie hetzen vor allem gegen Migranten aus muslimischen Ländern und, ebenfalls im Einklang mit der Orthodoxen Kirche, die LGBT-Szene. Diese rechtsextreme Szene hat derzeit zwar wenig Einfluss, ihre Anhänger hoffen aber auf einen Aufstieg, wie er Rechts­populisten und -extremisten in vielen europäischen Ländern gelanunten ist.

In vielerlei Hinsicht werden in Georgien also politische Kämpfe geführt. Kann die gesellschaftliche Liberalisierung, die bislang von vielen Georgiern und Georgierinnen von der Bäuerin bis zum Oligarchen abgelehnt und nur als für die Westbindung notwendiges Übel akzeptiert wird, in breiten Schichten der Bevölkerung Fuß fassen? Oder erweist sich der russische Druck letztlich als zu stark?

Angesichts der Armut und der gesellschaftlichen Macht der Orthodoxen Kirche erscheint eine emanzipatorische Entwicklung nicht sehr wahrscheinlich. Die hedonistische »Techno-Revolte« zeigt bislang wenig Interesse an sozialen Fragen; Armut und prekäre Arbeitverhältnisse erschweren die gewerkschaftliche Organisierung der Lohnabhängigen (siehe Seite 9). Vor allem eines fehlt im gegenwärti­gen Georgien: eine ernstzunehmende linke Kraft, die sich der sozialen Fragen annimmt.